
Thema verfehlt? Soziale Gerechtigkeit zurück auf die Agenda!

Nach der Bundestagswahl fragen sich viele, wie es politisch weitergeht. In Kooperation mit dem Progressiven Zentrum werfen wir einen Blick auf aktuelle Umfragedaten und zeigen auf, wie eine mögliche schwarz-rote Bundesregierung einen sozialpolitischen Konsens finden kann.
von Dominic Afscharian, Louisa Bayerlein, Mansour Aalam und Wolfgang Schroeder
Eine Nacht der Verlierer:innen
Es war ein hartes Erwachen nach dem Wahlabend. Kaum eine Partei kann mit den Ergebnissen der Bundestagswahl zufrieden sein. Während SPD und Grüne weit abgeschlagen hinter der Union landeten, verzeichnete diese das zweitschlechteste Ergebnis ihrer Geschichte. FDP und BSW scheiterten sogar an der Fünf-Prozent-Hürde. Einzig für die Linke und die AfD gab es Anlass zu feiern. Die Gründe für diese Ergebnisse sind vielfältig und dürften in den kommenden Wochen und Monaten aufgearbeitet werden. Mit Blick auf die Umfragen zur Wahl gibt es aber jetzt schon einen politisch weitgehend ignorierten Elefanten im Raum: Die soziale Gerechtigkeit.
Inhaltlich und tonal ging sozialer Zusammenhalt im Wahlkampf unter. Die Parteien überboten sich in TV-Duellen mit Abschiebungsrhetorik und Sanktionsdrohungen (Ködel und Moser 2025) – zum Schluss liebäugelten selbst Sozialdemokrat:innen mit einer Arbeitspflicht für Bürgergeldempfänger:innen (n-tv 2025). Dabei entstand ein politisches Vakuum; die soziale Gerechtigkeit geriet in einen toten Winkel des Wahlkampfs. Eine derzeit wahrscheinliche Koalition aus Union und SPD hat jedoch die Chance, das Thema zurück auf die Agenda zu bringen – und sie hat gute Gründe, dies zu tun.
Verhallte Rufe nach sozialer Gerechtigkeit
Ein Blick auf die Erwartungen und Einstellungen der Bevölkerung vor der Regierungsbildung zeigt, dass eine schwarz-rote Koalition gut beraten wäre, soziale Gerechtigkeit zu priorisieren. Schließlich ist die Nachfrage in der Bevölkerung groß. Bei der Frage, welches Thema für die Wahlentscheidung der Deutschen entscheidend war, standen – trotz des migrations- und wirtschaftspolitisch geprägten Wahlkampfes – soziale Gerechtigkeit (ZDFheute 2025) und Sicherheit (Tagesschau 2025a) weit oben.
Entsprechend schwach schnitten die Parteien vor der Wahl in der sozialpolitischen Wahrnehmung der Bürger:innen ab: Jede:r Vierte traute in einer von uns durchgeführten repräsentativen Umfrage keiner Partei die Lösung der drängendsten sozialpolitischen Probleme unserer Zeit zu (Afscharian, Bayerlein und Eck 2025, 8). Bei der Wahl wichen insbesondere jüngere, urbane Wähler:innen, die soziale Sicherheit priorisierten, auf die Linkspartei aus (siehe auch Tagesschau 2025b). Zwar wurde auch der Linken in unserer Umfrage sozialpolitisch wenig zugetraut, allerdings entstanden diese Zahlen vor ihrem Aufschwung in den Wahlumfragen. Seitdem stieg die zugeschriebene sozialpolitische Kompetenz der Linken deutlich (ZDFheute 2025). Mehr als die Hälfte der Linken-Wähler:innen gab soziale Sicherheit als das entscheidendste Thema für ihre Entscheidung an (Tagesschau 2025a).
Die meisten Parteien haben in den vergangenen Monaten sträflich ignoriert, welche sozialen Sorgen die Gesellschaft derzeit umtreiben – so in Teilen auch Union und SPD. Kurz vor der Wahl wurde so die Linkspartei zur großen Hoffnungsträgerin. Die wahrscheinlichen Regierungsparteien sollten nicht den Fehler machen, die sozialpolitische Erwartungshaltung, die viele an die Linkspartei stellen, zu ignorieren. Ihren Erfolg auf TikTok zu reduzieren, greift deutlich zu kurz – für viele Wähler:innen ist ein klares sozialpolitisches Angebot von herausragender Bedeutung (Tagesschau 2025d).
Wo genau kann die kommende Regierung ansetzen, um dem zunächst abstrakt erscheinenden Ruf nach mehr sozialer Sicherheit Gehör zu verschaffen? Unsere Umfrage zeigt, dass die Bürger:innen den Glauben an einige fundamentale Versprechen der sozialen Marktwirtschaft verloren haben. Laut unseren Daten sind drei Viertel der Deutschen der Ansicht, das Elternhaus entscheide zu oft über die Chancen, die man im Leben hat; zwei Drittel glauben zudem, es sei inzwischen kaum noch möglich, sich aus eigener Kraft ein Vermögen aufzubauen (Afscharian, Bayerlein und Eck 2025). Letztere Position teilen insbesondere Personen, die die Linke (71,7%), die AfD (81,5%) und das BSW (83,1%) für sozialpolitisch besonders kompetent halten.
In den turbulenten vergangenen Jahren ist das Gerechtigkeitsempfinden erodiert und soziale Abstiegssorgen haben zugenommen. 57% der nach der Wahl befragten Bürger:innen sind der Meinung, dass es in Deutschland eher ungerecht zugeht; nur 37% empfinden das Gegenteil (Tagesschau 2025c). Noch 2017 war dieses Verhältnis nahezu genau umgekehrt. Über die Hälfte macht sich zudem große Sorgen, dass sie ihre Rechnungen in Zukunft nicht mehr bezahlen können. 48% fürchten, ihren Lebensstandard nicht halten zu können und genau der Hälfte bereitet die Vorstellung, von Altersarmut betroffen zu sein, Kopfzerbrechen (Tagesschau 2025c). Diese Sorgen sind unter denjenigen besonders groß, die Rechtsaußen gewählt haben. Unter Wähler:innen mit schlechter wirtschaftlicher Situation machten jüngst 39% ihr Kreuz bei der AfD, die somit in dieser Gruppe mit weitem Abstand vorne lag (Tagesschau 2025d). Diese Daten bieten erste Anhaltspunkte für den dringenden sozialpolitischen Handlungsbedarf einer zukünftigen Regierung, nicht nur, um zumindest einige Risse in der Gesellschaft zu kitten, sondern vor allem, um auf ganz konkrete gesamtgesellschaftliche Ängste einzugehen.
Sozialpolitische Schnittmengen zwischen Union und SPD
Auf den ersten Blick dürfte die Aussicht auf eine weitere schwarz-rote Bundesregierung einige beunruhigen, schließlich gab es in der Vergangenheit viel Dissens zwischen beiden Seiten. Insbesondere das Bürgergeld, also der lange angekündigte Versuch der Scholz-Regierung, die Schröder-Jahre endgültig hinter sich zu lassen, steht auf der Streichliste der CDU (Geinitz und Pennekamp 2024). Trotz der Einseitigkeit und Härte des Wahlkampfs besteht eine gute Chance, dass viele Themen aus der Versenkung zurückgeholt werden, sobald die Fachpolitiker:innen nach der Regierungsbildung das Heft des Handelns in die Hand nehmen. Aber was bedeutet das für Fragen der sozialen Gerechtigkeit?
Bei näherer Betrachtung besteht durchaus Hoffnung, denn Union und SPD vereinen vor dem Hintergrund der präsentierten Umfragedaten einige Interessen, die für eine starke Sozialpolitik sprechen. Diese Gemeinsamkeiten verteilen sich auf drei miteinander verwobene Bereiche: Chancengerechtigkeit, das Aufstiegsversprechen und die Stärkung der Mitte der Gesellschaft.
Im Bereich der Chancengerechtigkeit besteht aus unserer Sicht offensichtlicher Handlungsbedarf: Wenn drei Viertel der Deutschen glauben, die Chancen im Leben hingen zu sehr vom Elternhaus ab, kann das weder für Christ- noch für Sozialdemokrat:innen akzeptabel sein. Sozialdemokratische Gerechtigkeitsideale und der Fokus auf wirtschaftliche Leistung, den die Union derzeit vorantreibt, teilen die Grundannahme, dass alle Menschen zunächst einmal die Chance haben, es im Leben zu etwas zu bringen. Entsteht allerdings der Eindruck einer Lotterie der Geburt (siehe Afscharian, Bayerlein und Eck 2025), dann trifft ebendiese Prämisse nicht mehr zu.
Der Leistungsgedanke ist auch und insbesondere für das Aufstiegsversprechen zentral, dem SPD und Union gemeinsam anhängen. Sei es die sozialdemokratische Arbeitsethik oder der gerade aktuell durch die CDU wieder vorangetriebene Ruf, Arbeit solle sich wieder lohnen (Middelberg, Stracke und Linnemann 2024): Beide stehen im Konflikt mit dem von zwei Dritteln der Deutschen geteilten Eindruck, ein Vermögensaufbau aus eigener Kraft sei kaum noch möglich. Gerade der Fokus der CDU auf „ein neues Wohlstandsversprechen“ (CDU 2025) dürfte eine starke Basis dafür bilden, dass eine schwarz-rote Koalition den sozialen Aufstieg in den Blick nimmt.
Schließlich eint Union und SPD der Blick auf die Mitte der Gesellschaft. Sei es die „arbeitende Mitte“ bei der Sozialdemokratie (SPD-Bundestagsfraktion 2024) oder die Mittelschicht bei der CDU (FAZ 2024): Für beide Parteien muss es ein zentrales Anliegen sein, einen Sozialstaat zu schaffen, der auch über reine Notfallabsicherung hinaus Bestand hat. Unsere Umfragedaten legen nahe, dass sich sozialpolitische Unzufriedenheit bis weit in mittlere und höhere Einkommensschichten ausgebreitet hat. Alle Einkommensgruppen von 0 bis über 5000 Euro netto im Monat glauben mehrheitlich, dass die deutsche Sozialpolitik zu wenig für den sozialen Aufstieg und den Vermögensaufbau sozial benachteiligter Menschen tut, dass zu viele bedürftige Menschen durch die Sicherungsnetze fallen und dass viele Menschen Leistungen gar nicht in Anspruch nehmen, weil die Sozialsysteme so unübersichtlich sind (für Hintergründe zur Umfrage, siehe Afscharian, Bayerlein und Eck 2025).
Potenziale für eine moderne Sozialpolitik
Eine schwarz-rote Bundesregierung könnte – sofern sie die richtigen Prioritäten setzt – eine Sozialpolitik fördern, die das Individuum ins Zentrum stellt und bereits früh im Lebenslauf ansetzt, um allen Menschen angemessene Startchancen und Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten. Die Absicherung über den gesamten Lebenslauf hinweg sollte dabei erhalten und durch durchdachte sozialinvestive Maßnahmen ergänzt werden (Hemerijck und Mushövel 2025). Auch Bürokratieabbau ohne Sozialabbau ist möglich (Afscharian 2025) – zum Beispiel in Form vereinfachter und digitalisierter Antragsprozesse, der Zusammenlegung von Parallelsystemen und Pauschalierung bestimmter Leistungen. Diese Ansätze sind im Interesse aller potenziellen Regierungsparteien.
Sozialpolitik ist dabei selbstredend kein Allheilmittel für die politischen Spannungen unserer Zeit. Nicht alle Menschen, die sich dem rechten Rand zuwenden, tun dies aufgrund sozialer Verwerfungen. Sozialpolitische Maßnahmen werden weder allein, noch auf einen Schlag und selbstverständlich auch nicht vollständig dafür sorgen, Bürger:innen ihre berechtigten Sorgen zu nehmen. Die präsentierten Daten zeigen aber, dass Union und SPD gut daran täten – anders als im Wahlkampf angedeutet – einen sozialpolitischen Schwerpunkt zu setzen. Eine sozial gerechte Politik nimmt zum einen rechtsradikalen Bewegungen eine wichtige legitimatorische Basis und könnte so unter Umständen die Massentauglichkeit extremistischer Positionen eingrenzen – eine Brandmauer in Form wirksamer Politik. Zum anderen sind die zentralen Versprechen der sozialen Marktwirtschaft, insbesondere Chancengerechtigkeit und Fairness, tragende Säulen unserer Gesellschaft. Der schwindende Glaube daran darf nicht tatenlos hingenommen werden. Wir sehen handfeste soziale Probleme bis in die Mitte der Gesellschaft hinein und der Anspruch einer jeden Regierung muss sein, diesen Entwicklungen wirksam entgegenzutreten. Die nächste Regierung hat es also in der Hand, aus den Fehlern des Wahlkampfs zu lernen und das Chancenversprechen zu erneuern. Soziale Gerechtigkeit muss zurück auf die Agenda!
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Quellenverzeichnis
Literatur
Afscharian, Dominic. 2025. „Kettensägen und Agendaträume: Brauchen wir die Superministerien?“ Zentrum neue Sozialpolitik. 2025. https://zentrum-neue-sozialpolitik.org/kettensaegen-und-agendatraeume-brauchen-wir-die-superministerien/.
Afscharian, Dominic, Louisa Bayerlein und Lena Eck. 2025. „Ungleiche Chancen, geringes Vertrauen: Wie die Deutschen auf den Sozialstaat blicken“. Berlin: Zentrum für neue Sozialpolitik.
CDU. 2025. „Für ein neues Wohlstandsversprechen: Wahlprogramm 2025“. CDU. 2025. https://www.cdu.de/themen/wohlstand/.
FAZ. 2024. „CDU will Mittelschicht entlasten“. FAZ.NET. 2024. https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/cdu-will-mittelschicht-entlasten-110058384.html.
Geinitz, Christian und Johannes Pennekamp. 2024. „CDU nach Ampel-Aus: Carsten Linnemann über zukünftiges Programm“. FAZ.NET. 2024. https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/mehr-wirtschaft/cdu-nach-ampel-aus-carsten-linnemann-ueber-zukuenftiges-programm-110096571.html.
Grunwald, Maria. 2025. „Wahlkampf auf der Zielgeraden: Wo bleibt die Sozialpolitik?“ Deutschlandfunk. 2025. https://www.deutschlandfunk.de/bundestagswahlkampf-auf-der-zielgeraden-wo-bleibt-die-sozialpolitik-100.html.
Hemerijck, Anton und Fabian Mushövel. 2025. „Sozialpolitik ist eine Investition: Wie sie Wohlstand sichern und Wachstum ankurbeln kann“. Zentrum neue Sozialpolitik. 2025. https://zentrum-neue-sozialpolitik.org/sozialpolitik-ist-eine-investition/.
Ködel, Susanne und Philip-Johann Moser. 2025. „TV-Duell Scholz gegen Merz: Scholz und Merz wollen mehr Härte bei Migration und Bürgergeld“. Die Zeit, 2025. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2025-02/tv-duell-olaf-scholz-friedrich-merz-bild-welt.
Middelberg, Mathias, Stephan Stracke und Carsten Linnemann. 2024. „Neue Grundsicherung: Arbeit muss sich wieder lohnen“. CDU/CSU-Fraktion. 2024. http://www.cducsu.de/themen/neue-grundsicherung-arbeit-muss-sich-wieder-lohnen.
n-tv. 2025. „Scholz offen für Arbeitspflicht bei Bürgergeld“. n-tv.de. 2025. https://www.n-tv.de/politik/Scholz-offen-fuer-Arbeitspflicht-bei-Buergergeld-article25575071.html.
SPD-Bundestagsfraktion. 2024. „Wir entlasten die arbeitende Mitte – Mehr netto vom brutto“. SPD-Bundestagsfraktion. 2024. https://www.spdfraktion.de/themen/wir-entlasten-arbeitende-mitte.
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Tagesschau. 2025b. „Bundestagswahl 2025: Wem trauen Wählende gute Lösungen zu?“ tagesschau.de. 2025. https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2025-02-23-BT-DE/umfrage-kompetenzen.shtml.
Tagesschau. 2025c. „Bundestagswahl 2025: Wie beurteilen Wählende ihre Situation und die Lage in Deutschland?“ tagesschau.de. 2025. https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2025-02-23-BT-DE/umfrage-lebensverhaeltnisse.shtml.
Tagesschau. 2025d. „Bundestagswahl 2025: Wer wählte was?“ tagesschau.de. 2025. https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2025-02-23-BT-DE/umfrage-werwas.shtml
ZDFheute. 2025. „Aktuelle Daten zur Bundestagswahl“. ZDFheute. 2025. https://www.zdf.de/nachrichten/thema/bundestagswahl-120.html.
Foto
toxawww (iStock)
Autoren

Dr. des. Dominic Afscharian
Wissenschaftlicher Mitarbeiter Bereich Zukunftsfähiger Sozialstaat
afscharian@zentrum-neue-sozialpolitik.org

Louisa Bayerlein
Junior-Referentin Bereich Zukunftsfähiger Sozialstaat
bayerlein@zentrum-neue-sozialpolitik.org


Prof. Dr. Wolfgang Schroeder
Vorsitzender
Das Progressive Zentrum
progressives-zentrum.org