
Ungleich getaktet

Zeit als unterschätzter Wohlstandsfaktor
Die Debatte um Arbeitszeit ist allgegenwärtig. Der neue Kanzler fordert eine gemeinsame Kraftanstrengung, um Wohlstand zu sichern, doch auf die berechtigte Sorge folgt eine verkürzte Analyse. Es braucht einen zukunftsfähigen Wohlstandsbegriff, der nicht nur ökonomische Kennzahlen einbezieht. Zeit als ungleich verteilte Ressource gehört in den Mittelpunkt der Debatte. Eine Vernachlässigung erhöht den Druck auf besonders belastete Gruppen.
Ob im Wahlkampf, bei der ersten Regierungserklärung oder beim CDU-Wirtschaftstag – Bundeskanzler Friedrich Merz stellt regelmäßig eine vermeintlich einfache Gleichung in den Raum: In Deutschland wird zu wenig gearbeitet, um gesellschaftlichen Wohlstand zu sichern. In den ersten Wochen der neuen Bundesregierung ging es um wöchentliche statt tägliche Höchstarbeitszeit, um das Ende der Work-Life-Balance und das Abrufen ungenutzten Arbeitspotenzials.
Diagnose und Behandlung scheinen für den Bundeskanzler klar. Die Gleichung „Lange Arbeitszeiten = Wohlstand“ wurde in den vergangenen Wochen jedoch mehrfach und von verschiedenen Akteur:innen infrage gestellt – unter anderem durch das Institut Solidarische Moderne oder von Johanna Wenckebach (2025). Stimmen aus Wissenschaft, Praxis und Zivilgesellschaft weisen seit Längerem darauf hin, dass diese Gleichung weder ökonomisch tragfähig noch gesellschaftlich zukunftsfähig ist. Für ein Thema, bei dem Arbeitszeit zentral ist, geht es zwar viel um Produktivität, Wertschöpfung und Standortkonkurrenz, aber erstaunlich wenig um Zeit. Diese thematische Engführung verkennt nicht nur die individuelle Bedeutung von freier, selbstbestimmter Zeit, sondern auch eine zentrale Dimension gesellschaftlicher Ungleichheit. Beides zusammen stellt in der Diskussion um Arbeitszeit eine Lücke dar, die kostspielig werden könnte – für ohnehin belastete Gruppen ebenso wie für den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand.
Freie Zeit = Wohlstandsfaktor?
Ob wir (ausreichend) freie Zeit zur Verfügung haben, hat laut Denger et al. (2024) Einfluss darauf, wie selbstbestimmt wir unser Leben gestalten können, wie wir gesellschaftlich teilhaben können – und wie es uns gesundheitlich geht. Man könnte sagen: Wer über genügend freie Zeit verfügt, ist in vielerlei Hinsicht wohlhabend – gerade in einer Gesellschaft, in der es oft darum geht, Zeit einzusparen oder sie zu optimieren. Die Forschung spricht von „Zeitwohlstand”. Das Konzept – geprägt von Rinderspacher (2012) – meint nicht nur das bloße Vorhandensein von freier Zeit. Diese ist nur dann wertvoll, wenn sie selbstbestimmt genutzt werden kann, wenn wir sie als wirklich frei erleben und wenn sie sich mit der freien Zeit von anderen überschneidet – wir also sozialen Beziehungen nachgehen können. Legen wir einen nicht (rein) ökonomischen Wohlstandsbegriff an, dann ist Zeit mitunter die entscheidende Ressource, die unsere Lebensqualität beeinflusst.
Gleichzeitig ist immaterieller Zeitwohlstand eng mit ökonomischem Wohlstand verknüpft. Wer neben dem Job freie Zeit zur Verfügung hat, die nicht für andere Verpflichtungen verbucht ist, kann diese Zeit ökonomisch gewinnbringend nutzen, z. B. für Weiterbildung oder Networking-Veranstaltungen. Andersherum beschneidet ökonomische Armut auch die souveräne Verfügung über die eigene Zeit und trägt zu Zeitarmut bei. Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen haben beispielsweise seltener Zugang zu flexiblen Arbeitsmodellen oder Kinderbetreuung und können ihre Sorgearbeit auch nicht auslagern.
Wer hat Zeit?
Friedrich Merz’ Aussagen sind nicht allein aus der Perspektive des Eigenwerts individuell gestaltbarer Zeit zu bewerten, sondern auch im Hinblick auf die Verteilung der Ressource Zeit in unserer Gesellschaft. Wenn gefordert wird, dass insgesamt mehr gearbeitet werden soll, hat das je nach gesellschaftlicher Gruppe unterschiedliche Implikationen. Wer in schlecht bezahlten oder stark belasteten Berufen arbeitet, hat häufig keine zeitlichen Puffer. Laut Paritätischem Armutsbericht leben etwa 1,2 Millionen Vollzeitbeschäftigte in Deutschland in erheblicher materieller Entbehrung. Die Zahl derjenigen, die ihre Zeit zwischen mehreren Jobs aufteilen müssen, wächst. Wer dauerhaft in solchen Situationen lebt, verliert nicht nur Energie, sondern auch Gestaltungsspielräume für andere Lebensbereiche: Erholung, Engagement, Weiterbildung oder soziale Beziehungen.
Für viele Eltern stellt sich die Frage, wie sich zusätzliche Erwerbsarbeit überhaupt realisieren ließe, besonders, wenn Sorgearbeit, Kinderbetreuung und berufliche Anforderungen zusammenkommen. Laut Statistischem Bundesamt arbeitet diese Gruppe im Schnitt 58,5 Stunden pro Woche, rechnet man unbezahlte Arbeit hinzu. Ein Ausbau von Kitaplätzen könnte helfen, Zeit für Erwerbsarbeit freizumachen, doch auch das greift oft zu kurz. Denn während sich jede vierte Mutter mehr Zeit für den Job wünscht, äußern Väter im gleichen Umfang das Gegenteil. Eltern insgesamt wünschen sich vor allem eines: mehr Zeit mit der Familie. Das zeigt, wie vielfältig Zeitbedarfe sind – und dass es mehr braucht als standardisierte Vereinbarkeitslösungen. Lebensläufe sind von wechselnden Prioritäten, unterschiedlichen Lebensphasen und vielfältigen Rollen geprägt. Es reicht nicht, Arbeit und Familie einfach „unter einen Hut“ zu bringen. Wer unter Vereinbarkeitsproblemen leidet, zieht sich eher aus gesellschaftlichem Engagement zurück, erlebt Stress und Überforderung – so die Hans-Böckler-Stiftung (2012).
Das Ende der Work-Life-Balance?
Vor diesem Hintergrund wirkt die Forderung von Friedrich Merz, die „Work-Life-Balance“ zugunsten von mehr Wohlstand über Bord zu werfen, realitätsfern. Zum einen kann von einer wirklichen Balance bei vielen Menschen schon heute nicht die Rede sein. Zum anderen stellt sich die bereits viel diskutierte Frage nach der Produktivität der Arbeitskraft: Wie produktiv können Menschen im Job sein, wenn ihnen die Zeit für alle anderen Lebensbereiche fehlt? Wie gleichen wir die gesundheitlichen Folgen aus, die Zeitarmut mit sich bringt?
Zeit als ungleich verteilte Ressource ist eine soziale Realität. Ein bloßer Appell zu mehr Arbeitsstunden verkennt diese Ausgangslage.
Wenn wir Wohlstand langfristig sichern wollen, müssen wir anders über Zeit sprechen, nämlich nicht nur als Voraussetzung für Erwerbsarbeit, sondern in all ihren Facetten. Zeit als ungleich verteilte Ressource ist eine soziale Realität. Ein bloßer Appell zu mehr Arbeitsstunden verkennt diese Ausgangslage. Die Berufung auf traditionelle Arbeitsnormen greift zu kurz. Es braucht eine moderne Wohlstandsdebatte. Dazu gehört neben ökonomischen Kennzahlen auch eine Politik, die Zeit als Gestaltungsraum anerkennt und Bedingungen dafür schafft, dass Menschen ihre Zeit selbstbestimmt einsetzen können. Zeit muss als eine zentrale Ungleichheitsdimension mitgedacht werden, damit die Belange zeitlich belasteter Gruppen und ihre Lebensrealitäten in Arbeitszeitdebatten nicht missachtet werden. Denn: Nur wer über ausreichend Zeit verfügt, kann sich produktiv einbringen und aktiv zur Gesellschaft beitragen.
Literatur
Bundesregierung. 2025. „Regierungserklärung von Bundeskanzler Friedrich Merz zur neuen Bundesregierung vor dem Deutschen Bundestag.“ 14. Mai 2025. Überprüft: 26.05.2025. https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/newsletter-und-abos/bulletin/regierungserklaerung-von-bundeskanzler-friedrich-merz-2347888.
Denger, Corinna, Nora Dornis, Lukas Heck, Hanna Völkle. 2024. „Klimafreundliche und gesundheitsfördernde Aspekte von Zeitwohlstand.“ Wien: Gesundheit Österreich.
Hans-Böckler-Stiftung. 2012. „Zeitsouveränität hilft beim Ehrenamt.“ BöcklerImpuls 2012(12). Überprüft: 26.05.2025. https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-zeitsouveraenitaet-hilft-beim-ehrenamt-8723.htm.
Institut Solidarische Moderne. 2024. „Zeit für gutes Leben. Arbeitszeitverkürzung – Transformationsprojekt der Vielen“. Kollektiver Diskussionsbeitrag August 2024. Überprüft: 26.05.2025. https://www.solidarische-moderne.de/de/article/701.zeit-für-gutes-leben-arbeitszeitverkürzung-transformationsprojekt-der-vielen.html
Rinderspacher, Jürgen. 2012. „Zeitwohlstand. Kriterien für einen anderen Maßstab von Lebensqualität“. In: WISO 2012(3): 11-26.
Schabram, Greta, Andreas Aust, Katja Kipping, Joachim Rock. 2025. „Verschärfung der Armut. Paritätischer Armutsbericht.“ Berlin: Paritätischer Wohlfahrtsverband – Gesamtverband e.V. Überprüft: 26.05.2025. https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/doc/armutsbericht_2025_web_fin.pdf.
Statistisches Bundesamt. 2024. „Zeitverwendungserhebung 2022.“ Überprüft: 26.05.2025. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Einkommen-Konsum-Lebensbedingungen/Zeitverwendung/zve2022/_inhalt.html
Wenckebach, Johanna. 2025. „8-Stunden-Tag: Arbeit braucht Grenzen“. Surplus – das Wirtschaftsmagazin. Überprüft: 26.05.2025. https://www.surplusmagazin.de/8-stunden-tag-arbeit-merz-hochstarbeitszeit-uberstunden/
Autor:innen

Maike Wittmann
Junior-Referentin
Bereich Zukunftsfähiger Sozialstaat
zentrum-neue-sozialpolitik.org

Selina Florentine Schelles
Praktikantin
Bereich Zukunftsfähiger Sozialstaat
zentrum-neue-sozialpolitik.org