Chancen für alle?

Sozialpolitik und Chancengerechtigkeit im schwarz-roten Koalitionsvertrag

Der schwarz-rote Koalitionsvertrag ist da – aber was verspricht er sozialpolitisch? Dominic Afscharian, Laura Bänsch und Torben Fischer analysieren die Pläne von CDU, CSU und SPD mit Blick auf Fragen der Chancengerechtigkeit und identifizieren drei zentrale Probleme, die die Koalition dringend angehen muss. 

Von Dominic Afscharian, Laura Bänsch und Torben Fischer

„Wohlstand für Alle“ – Ludwig Erhards berühmtes Ziel (Erhard 1957) prägt bis heute die Erwartungen der Deutschen an die Soziale Marktwirtschaft. In der Praxis werden diese Erwartungen aber oft enttäuscht. Vor der Bundestagswahl kam eine von uns beauftragte repräsentative Umfrage zum Ergebnis, dass große Teile der Bevölkerung nicht mehr an Chancengerechtigkeit und Aufwärtsmobilität – wichtige Grundsätze des deutschen Sozialsystems – glauben. Unsere Diagnose lautete: Es „bröckelt der Glaube an das Chancenversprechen der sozialen Marktwirtschaft“ (Afscharian, Bayerlein und Eck 2025b, 7). Nun verspricht die Präambel des neuen Koalitionsvertrags Abhilfe: „Wir erneuern das Versprechen der Sozialen Marktwirtschaft – Chancen und ‚Wohlstand für alle‘“ (CDU, CSU und SPD 2025, 2). Was zunächst vielversprechend klingt, weist auf eine sozialpolitische Agenda hin, die eine ausgewählte Gruppe besonders in den Mittelpunkt stellt – und ein einseitiges Verständnis von Chancen offenbart.  

Chancen – ein offenes Konzept 

Das schwarz-rote Chancenversprechen beruht zuallererst auf einer inhaltlichen Unschärfe: der Offenheit des Chancenbegriffs selbst. Was bedeuten Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit konkret? In der wissenschaftlichen Literatur finden sich unterschiedlichste Positionen zu dieser Frage. Auf der einen Seite des Spektrums steht eine Interpretation, die Chancengleichheit als minimalen Anspruch definiert. Gleiche Chancen sind nach dieser Sichtweise erreicht, wenn alle Menschen formell den gleichen Zugang zu bestimmten Möglichkeiten im Leben haben, wobei Unterschiede in Eigenschaften von Personen keine oder eine untergeordnete Rolle spielen (für eine kritische Auseinandersetzung, siehe Heid 1988, 2). Beispiele hierfür bestehen im rechtlich gleichen Zugang zu Institutionen wie Schulen, Arbeitsmarkt oder Rechtssystem (für eine ausführlichere Diskussion des Chancengleichheitsbegriffs, siehe Riva 2015). Theoretisch, so die Idee, könnte jede:r diese Gelegenheiten ergreifen, um sich z.B. ein Vermögen aufzubauen. Diese Sicht ignoriert allerdings, dass nicht alle Menschen die gleichen Startvoraussetzungen haben, sei es z.B. in Form des eigenen sozio-ökonomischen Hintergrunds oder persönlicher Einschränkungen. Nur weil jemand auf dem Papier für die eigenen Rechte eintreten kann, heißt das nicht, dass dies auch faktisch möglich ist. 

Der formelle Zugang zu Institutionen ist also wenig zielführend als Indikator für Chancengleichheit. Ein deutlich gehaltvollerer Begriff von Chancengleichheit geht u.a. auf Beiträge um Rawls (1971) und Dworkin (1981a; 1981b) zurück. Chancengleichheit beschreibt demnach einen Zustand, bei dem Lebensrealitäten „ausschließlich von Faktoren abhängen, für die Personen selbst verantwortlich sind“ (Roemer und Trannoy 2015, 217–18, aus dem Englischen übersetzt). Folgt man dieser Definition, kann Chancengleichheit sinnvoll als Maximalform von Chancengerechtigkeit gesehen werden, da der Chancengleichheitsbegriff strukturelle Benachteiligungen bereits miteinbezieht. Wenn nach dieser Logik also Chancengleichheit herrscht, dürften viele – insbesondere in einem liberalen Weltbild – diesen Zustand als gerecht erachten. Damit das Versprechen von Chancen für alle inhaltlich Substanz hat, muss es somit darauf abzielen, Individuen zu befähigen (Sen 1979) 

Auf dieser Basis können Chancen eng oder weit interpretiert werden, insbesondere mit Blick auf materielle und immaterielle Ungleichheit (siehe z.B. Barry 1998; Wolff 2017). In einer engen Sicht beschreiben Chancen im sozialpolitischen Kontext vornehmlich materielle Aspekte der sozialen Sicherheit, vom Zugang zu finanziellen Ressourcen bis hin zum Arbeitsmarkt. Weiter gefasst beinhalten Chancen auch immaterielle soziale Möglichkeiten sowie generelle Selbstverwirklichung und -bestimmung (Sen 1979; 2005 ; Nussbaum 2002; 2006) 

Wie ambitioniert ist das Chancenversprechen des Koalitionsvertrags also tatsächlich? Eine simple Suche nach dem Wort „Chance“ gibt zunächst Anlass zur Skepsis. Nutzte die Ampel-Koalition den Begriff noch 51-mal und widmete dem Thema zwei ganze Kapitel (SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP 2021), kommt der Begriff im schwarz-roten Koalitionsvertrag nur 20-mal vor; in 14 Fällen geht es dabei um sozialpolitisch relevante Kontexte. Allerdings ist eine solche quantitative Betrachtung wenig aussagekräftig, da viele chancenrelevante Passagen den Begriff nicht explizit nennen und Union und SPD ambitionierte Verbesserungen wie „mehr Chancengleichheit“ oder „tatsächliche Gleichstellung“ (CDU, CSU und SPD 2025, 2) versprechen. Eine nähere Betrachtung ist also unabdingbar – was genau meinen die künftigen Regierungsparteien, wenn sie von der Verbesserung von Chancen sprechen? Um das zu klären, werfen wir einen genaueren Blick auf den Koalitionsvertrag. Dabei legen wir neben der Präambel einen besonderen Fokus auf die Teile, die sich mit Arbeit und Sozialem (Kapitel 1.2), Bildung, Forschung und Innovation (Kapitel 2.4) sowie Familien, Frauen, Jugend, Senioren und Demokratie (Kapitel 4.1) befassen. 

Individuelle Förderung und strukturelle Hürden 

Analytisch gesehen gehen Chancendefizite unweigerlich mit Hürden einher. Somit bedeuten Chancenungleichheiten letztlich, dass das Erreichen eines Ziels für einen Menschen trotz gleichem Einsatz aufgrund individueller oder struktureller Benachteiligung schwerer als für einen anderen ist.  

Um diese Defizite zu beheben und somit das Chancenversprechen der Sozialen Marktwirtschaft zu erneuern, gibt es grob vereinfacht zwei Ansatzpunkte: Union und SPD könnten Menschen durch individuelle Förderung sowie den Ausgleich von Benachteiligungen dazu befähigen, Chancen im Leben wahrzunehmen, oder sie könnten sich darauf konzentrieren, strukturelle Hürden abzubauen, die verhindern, dass Menschen ihre Fähigkeiten entfalten können. Beide Wege orientieren sich am Individuum, entweder durch die gezielte Unterstützung entsprechend spezifischer Bedürfnisse und Lebenslagen oder mittels der Ermöglichung gleicher Startchancen durch faire Rahmenbedingungen. 

Tatsächlich bezieht der Koalitionsvertrag beide Ansätze in seine sozialpolitischen Vorhaben mit ein. Ein Paradebeispiel für die Befähigung des Individuums findet sich in den Zeilen 508-511: „Für diejenigen, die aufgrund von Vermittlungshemmnissen keinen Zugang zum Arbeitsmarkt finden, werden wir vor allem durch Qualifizierung und eine bessere Gesundheitsförderung und Reha-Maßnahmen eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt ermöglichen“ (CDU, CSU und SPD 2025, 17). In den Zeilen 419-420 fokussieren sich die Parteien im Gegensatz dazu auf strukturelle Hürden der Arbeitsmarktintegration für ausländische Arbeitnehmer:innen: „Es gilt, bürokratische Hürden einzureißen, etwa durch eine konsequente Digitalisierung sowie die Zentralisierung der Prozesse und eine beschleunigte Anerkennung der Berufsqualifikationen“ (CDU, CSU und SPD 2025, 14). 

Zwar sind beide Ansätze in den analysierten Abschnitten vertreten, allerdings sticht bei Betrachten des Gesamtbilds ein klares Muster heraus: Die Pläne der Koalition zum Abbau struktureller Hürden in der Sozialpolitik betreffen nahezu ausschließlich den Staat, seine Institutionen und Regeln: Sei es die Vereinheitlichung der Anerkennungsverfahren von Qualifikationen (Z. 426-427), die Vereinfachung der Akkreditierung zur Träger- und Maßnahmenzulassung in der Aus- und Weiterbildung (Z. 533-536) oder die Prüfung von Gesetzen zur Barrierefreiheit in der Privatwirtschaft (Z. 645-652) – es dominiert das Leitmotiv des Bürokratieabbaus (Z. 34-37). Im Gegensatz dazu bleiben viele andere strukturelle Hürden unangetastet, die eine wesentliche Rolle auf dem Weg zu einer chancengerechteren Gesellschaft spielen: Geht es beispielsweise um Hürden wie den „alltäglichen Spagat zwischen Kindererziehung, Arbeit, Haushalt, Pflege und auch Erholung“ (Z. 408-409), geringe Einkommen und Altersarmut (Z. 610-613), oder den für Studierende kaum noch bezahlbaren Wohnungsmarkt (Z. 2445-2448), wird selten auf direkte staatliche Markteingriffe gesetzt. Stattdessen werden vornehmlich Vorschläge gemacht, die es Individuen ermöglichen sollen, Hürden (für sich selbst) zu überwinden. In Ausnahmen von dieser Regel, also wenn doch strukturelle Hürden angesprochen werden, geht die Koalition selten über Lippenbekenntnisse hinaus. Beispielsweise formulieren Union und SPD mit Blick auf die Geschlechtergerechtigkeit: „Wir wollen strukturelle Benachteiligungen für Frauen im Alltag beseitigen und dafür sorgen, dass unbezahlte Arbeit, wie Kinderbetreuung und Pflege, fairer verteilt wird“ (CDU, CSU und SPD 2025, 101). Die Wahl von „wollen“ statt „werden“ zeigt hier, wie auch an anderen Stellen des Koalitionsvertrags, die Unverbindlichkeit des Ziels und seiner konkreten Umsetzung an (auch medial aufgegriffen, z.B. durch Müller 2025) 

Sozialpolitik als Belohnung: Ein Vertrag für „Leistungsträger:innen“ 

Der Fokus auf die Stärkung des Individuums wirft unweigerlich die Frage auf, wer genau gefördert werden soll. In den von uns analysierten Bereichen dreht sich – naheliegenderweise – vieles um junge Menschen. Von Kindern und Jugendlichen (z.B. Z. 3111-3114; Z. 3164-3167) über Studierende (z.B. Z. 2382-2385; Z. 2390-2939) bis hin zu jungen Arbeitssuchenden (z.B. Z. 2395-2397; Z. 2402-2407) bezieht sich das Chancenversprechen der Koalition in der Sozialpolitik oft auf frühe Phasen im Leben. Arbeitssuchende und Arbeitnehmer:innen werden ebenfalls häufig angesprochen (z.B. Z. 419-437; Z. 497-499; Z. 506-511), wobei auch Rentner:innen potenziell als solche gesehen werden (Z.610-613). 

Zielgruppenübergreifend ist auch hier ein klarer Trend erkennbar: Leistungsträger:innen sollen belohnt werden. Zwar erwähnt der Koalitionsvertrag über seine 146 Seiten hinweg auch einige Maßnahmen für benachteiligte Personenkreise, allerdings werden Leistungsträger:innen disproportional stark in den Fokus gerückt und auch explizit als zentrale Zielgruppe genannt. Bereits die Präambel betont, dass die Regierung „Leistungsgerechtigkeit zu einem Leitprinzip machen“ wird; „Leistungsträger und ihre Familien stehen im Mittelpunkt“ (CDU, CSU und SPD 2025, 2). Ganze 113-mal fällt der Leistungsbegriff im Koalitionsvertrag – zwar nicht immer, aber häufig in sozialpolitisch relevanten Kontexten. Leistung müsse „sich auszahlen“ und „verdient Respekt“ (CDU, CSU und SPD 2025, 2), sodass sozialpolitische Maßnahmen auf die Belohnung von Mehrarbeit in allen Altersgruppen (Z. 569-570, 610-613), die Deregulierung der Arbeitszeit für (vermeintlich) mehr individuelle Flexibilität (Z. 557-560) und die Förderung von Leistungsfähigkeit im Bildungssystem – beispielsweise durch das „Aufstiegs-BAföG“ (Z. 2390-2393) – abzielen. Der zuvor erwähnte Fokus auf Arbeitnehmer:innen und Arbeitssuchende erscheint so in einem anderen Licht: Während erstere gefördert werden, sind die Pläne im Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende vornehmlich restriktiv (CDU, CSU und SPD 2025, 15–18). Die kommende Legislatur könnte somit beispielsweise durch die Wiedereinführung des Vermittlungsvorrangs sogar Einbußen für individuelle Aus- und Weiterbildungschancen – und damit die Aussicht auf bessere Jobmöglichkeiten – mit sich bringen.  

Sozialpolitik im Koalitionsvertrag auf dem Prüfstand: Chancen und Leistungsprinzip im Spannungsfeld 

Die Agenda der Koalition noch vor Antritt der Regierung abschließend zu bewerten, ist schlicht nicht möglich – zu viele Prüfaufträge und vage Willensbekundungen enthält der Text. Vordergründig wirkt der Weg, über den die Koalition Chancen für alle schaffen will, zunächst schlüssig: Da, wo der Staat unmittelbar für strukturelle, insbesondere bürokratische Hürden verantwortlich ist, baut er diese ab; in den meisten anderen Bereichen fördert er Individuen, damit diese ihre Chancen im Leben ergreifen können. Dabei fokussiert sich die Koalition bewusst und explizit auf die Förderung von Leistungsträger:innen. Damit allerdings Chancen und Wohlstand für alle geschaffen werden können, müsste die Koalition entweder wirklich alle oder vornehmlich benachteiligte Personen in den Fokus ihrer Politik rücken. Dies ist aber nicht der Fall. Aus der Chancen-Agenda der Koalition ergeben sich somit drei potenzielle Probleme.  

Das erste Problem basiert auf der unklaren Definition des Begriffs der Leistungsträger:innen. So intuitiv das normative Ziel, Leistungsträger:innen zu belohnen, auch wirkt, so wenig tauglich ist es für eine politische Praxis, die Chancengleichheit herstellen will (z.B. CDU, CSU und SPD 2025, 2). Schließlich dürften die meisten Menschen für sich selbst in Anspruch nehmen, etwas zu leisten. Wie will die Koalition hier also eine Abgrenzung vornehmen? Bemisst man Leistung beispielsweise am Einkommen oder am Schulabschluss, mischen sich schnell Privilegien mit ins Bild, denn nicht nur Leistung, sondern auch strukturelle Vorteile im Leben können die genannten Indikatoren begünstigen. Wählt man Arbeitsmarktbeteiligung als Indikator, besteht ein ähnliches Problem, zumal Leistungen abseits der Erwerbsarbeit – sei es in Familie, Bekanntenkreis, oder Gesellschaft – so nicht bemessen werden kann. Die Koalition will zwar Verbesserungen in Bereichen wie dem Elterngeld und der Pflege von Angehörigen umsetzen, formuliert ihre Ziele aber gerade dort häufig vage und unverbindlich (z.B. Z. 3220-3232). Zudem bleibt das analytische Grundproblem bestehen: Wo wird die Linie gezogen, ab der jemand nicht als Leistungsträger:in zählt? 

Zweitens verschließt der Fokus auf Leistungsträger:innen den Blick auf Personen, die zu Leistung bereit sind, diese aber aufgrund negativer Anreize oder struktureller Hürden nicht verwirklichen können. So verspricht die schwarz-rote Koalition beispielsweise steuerfreie Zuschläge für Mehrarbeit, was die Chancen auf ein höheres Einkommen steigert – jedoch nur für Vollzeitbeschäftigte (CDU, CSU und SPD 2025, 18). Da hiervon aufgrund von Faktoren wie Ehegattensplitting oder ungleich verteilter Pflegeverantwortungen öfter Männer als Frauen profitieren, könnten Probleme wie Teilzeitfallen für bestimmte leistungsbereite Personen sogar noch verstärkt werden (siehe auch Rövekamp 2025) 

Drittens untergräbt die Agenda der Koalition die eigenen Ansprüche an Chancengleichheit. Die Entscheidung, Leistungsträger:innen besonders zu fördern, führt dazu, dass sie im Vergleich zu anderen Gruppen noch stärker begünstigt werden, als es derzeit ohnehin der Fall ist (siehe auch Fratzscher 2025). Die resultierende Ungleichheit könnte durch das Leistungsprinzip zwar theoretisch legitimiert werden – allerdings nur dann, wenn sie ausschließlich auf Leistung zurückzuführen ist. Das erfordert ein ambitioniertes Verständnis von Chancengleichheit: Jegliche Ungleichheiten müssen danach auf Faktoren basieren, für die die Individuen selbst verantwortlich sind (Roemer und Trannoy 2015). Je stärker die Betonung des Leistungsprinzips ausfällt, desto höher sind auch die Ansprüche an die Chancengleichheit, auf der das Leistungsprinzip fußt.  

Und genau hierin liegt ein Manko in der geplanten schwarz-roten Sozialpolitik: Sie gewichtet die Förderung (vermeintlicher) Leistungsträger:innen so stark, dass sie ein Ambitionsniveau im Bereich der Schaffung von Chancengleichheit voraussetzt, dem sie selbst politisch nicht gerecht werden kann. Dabei setzen wir in unserer Betrachtung sogar noch einen eher engen Chancenbegriff voraus, der sich vornehmlich auf materielle Ressourcen bezieht. Fasst man den Chancenbegriff weiter und schließt immaterielle Chancen auf Selbstverwirklichung jenseits von Arbeit und Einkommen mit ein (Sen 1979; 2005 ; Nussbaum 2002; 2006), greift das eng gedachte Verständnis von Leistungsträger:innen des Koalitionsvertrags deutlich zu kurz.  

Sozialpolitisches Nachsteuern für eine erfolgreiche Legislatur 

Da die neue Koalition die derzeit existierende Chancenungleichheit implizit problematisiert, in ihrer Lösungsstrategie aber vor allem auf die Förderung tendenziell bereits bessergestellter Individuen abzielt, wirkt der Koalitionsvertrag in sich streckenweise unschlüssig. Wer Chancen und Wohlstand für alle verspricht, weil die Bevölkerung an genau dieses Versprechen aktuell nicht mehr glaubt (Afscharian, Bayerlein und Eck 2025b), muss auch greifbare Ergebnisse für alle ermöglichen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Demokratie weiter untergraben wird.  

Um die in diesem Beitrag beschriebene Schlagseite des Koalitionsvertrags auszugleichen, müssen insbesondere die Fördermaßnahmen für benachteiligte Individuen zügig und vollständig umgesetzt werden. Zudem sollten weitere Maßnahmen in Betracht gezogen werden, die auch benachteiligen Menschen Chancen ermöglichen, überhaupt zu Leistungsträger:innen zu werden. Dies könnte durch einen begleitenden Abbau struktureller Hürden, aber auch durch individuelle Fördermaßnahmen wie das von uns aktuell erarbeitete „Startchancenkapital(Aalam et al. 2025) geschehen. Ob und wie die Koalition ihre Pläne in den kommenden Jahren weiterentwickelt und umsetzt, bleibt abzuwarten. Das richtige Ziel hat sie sich schon einmal selbst gesetzt: Chancen und Wohlstand für alle. 

Literatur

Aalam, Mansour, Dominic Afscharian, Louisa Bayerlein, Lena Eck und Moritz Rüppel. 2025. „Das Startchancenkapital: Selbstbestimmung durch finanzielle Förderung und Bildung“. Berlin: Zentrum für neue Sozialpolitik.

———. 2025. „Ungleiche Chancen, geringes Vertrauen: Wie die Deutschen auf den Sozialstaat blicken“. Berlin: Zentrum für neue Sozialpolitik. 

Barry, Brian. 1998. „Social Exclusion, Social Isolation and the Distribution of Income“. LSE STICERD Research Paper, Nr. CASE 012, i–24. 

CDU, CSU und SPD. 2025. „Verantwortung für Deutschland: Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD – 21 Legislaturperiode“. Berlin: CDU. 

Dworkin, Ronald. 1981a. „What is equality? Part 1: Equality of welfare“. Philosophy and Public Affairs 10 (3): 185–246. 

———. 1981b. „What is equality? Part 2: Equality of resources“. Philosophy and Public Affairs 10 (4): 283–345. 

Erhard, Ludwig. 1957. Wohlstand für Alle. Düsseldorf. Econ Verlag. 

Fratzscher, Marcel. 2025. „Umverteilung im Koalitionsvertrag: Dieser Koalitionsvertrag ist riskant“. Die Zeit, 2025. https://www.zeit.de/wirtschaft/2025-04/umverteilung-koalitionsvertrag-mindestlohn-steuern-ungleichheit. 

Heid, Helmut. 1988. „Zur Paradoxie der bildungspolitischen Forderung nach Chancengleichheit“. Zeitschrift für Pädagogik 34 (1): 1–17. 

Müller, Marie A. 2025. „Nix fix? Was die Formulierungen im Koalitionsvertrag bedeuten“. BR24. Überprüft: 17. April 2025. https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/finanzierungsvorbehalt-und-co-was-ist-fix-im-koalitionsvertrag,UiQ32SA. 

Nussbaum, Martha. 2002. „Capabilities and Social Justice“. International Studies Review 4 (2): 123–35. https://doi.org/10.1111/1521-9488.00258. 

———. 2006. „Capabilities as fundamental entitlements: Sen and social justice“. In Capabilities Equality: Basic Issues and Problems. Milton Park: Routledge. 

Rawls, John. 1971. A Theory of Justice. Cambridge: Harvard University Press. 

Riva, Nicola. 2015. „Equal Chances and Equal Options: Two Conceptions of Equality of Opportunity“. Ratio Juris 28 (2): 293–306. https://doi.org/10.1111/raju.12083. 

Roemer, John E. und Alain Trannoy. 2015. „Equality of Opportunity“. In Handbook of Income Distribution, herausgegeben von Anthony B. Atkinson und François Bourguignon, 2:217–300. Oxford: Elsevier. https://doi.org/10.1016/B978-0-444-59428-0.00005-9. 

Rövekamp, Marie. 2025. „Steuerfreie Überstunden: Sorry, Schatz, die Überstunde ist doch so lukrativ!“ Die Zeit. Überprüft: 17. April 2025. https://www.zeit.de/arbeit/2025-04/steuerfreie-ueberstunden-vaeter-arbeitszeit-gleichstellung#comments. 

Sen, Amartya. 1979. „Equality of What?“ Gehalten auf der Tanner Lecture on Human Values, Stanford. 

———. 2005. „Human Rights and Capabilities“. Journal of Human Development 6 (2): 151–66. https://doi.org/10.1080/14649880500120491. 

SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. 2021. „Mehr Fortschritt wagen: Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“. Berlin: SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP. 

Wolff, Jonathan. 2017. „Forms of Differential Social Inclusion“. Social Philosophy and Policy 34 (1): 164–85. https://doi.org/10.1017/s0265052517000085. 

 

Autor:innen

Dr. des. Dominic Afscharian

Wissenschaftlicher Mitarbeiter

afscharian@
zentrum-neue-sozialpolitik.org

Laura Bänsch

Projektassistenz

baensch@
zentrum-neue-sozialpolitik.org

Torben Fischer

Projektmanager

fischer@
zentrum-neue-sozialpolitik.org