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Was der Sozialstaat leistet: Plädoyer für eine gesellschaftliche Errungenschaft

Vor dem „Herbst der Reformen“ droht der Sozialstaat auf seine Kosten reduziert zu werden. Doch moderne Sozialpolitik ist nicht nur ein Ausgabenposten. Sie leistet mehr, als ihr oft zugestanden wird - auch für die, die das System tragen.

Veröffentlicht
1. September 2025
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Kommentar

Der „Herbst der Reformen“ steht vor der Tür und klopft vor allem bei der Sozialpolitik an. Reformen sind ausdrücklich zu begrüßen: Viele Instrumente und Institutionen des Sozialstaats müssen modernisiert werden, um den Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft gerecht zu werden. Bei allem, was der Sozialstaat bereits leistet, kann seine ermöglichende Rolle durch Reformen weiter gestärkt werden.

Doch anstatt Hoffnung zu wecken, setzt Bundeskanzler Friedrich Merz den Ton anders: Der heutige Sozialstaat sei „nicht mehr finanzierbar“ und von Worten „wie Sozialabbau und Kahlschlag“ lasse er sich bei seinem Vorhaben nicht irritieren. Diese Rhetorik verschiebt die Debatte gefährlich. Sie verstellt den Blick auf die vielen Funktionen des Sozialstaats, von denen die Gesellschaft in ihrer ganzen Breite profitiert.

Wenngleich es Kritik am Sozialstaat schon immer gab, droht hier etwas ins Rutschen zu geraten: Wie selten zuvor in der deutschen Nachkriegsgeschichte steigt der Druck auf eine der großen Errungenschaften unserer Gesellschaft. Nahezu wöchentlich werden Säulen des gesellschaftlichen Zusammenhalts attackiert, für die jahrhundertelang gekämpft wurde. Das Problem liegt dabei nicht im Wunsch nach wirtschaftlicher Stärke oder individueller Freiheit. Beides sind legitime und wichtige Ziele. Es liegt darin, Sozialpolitik als deren Gegenspieler darzustellen. Tatsächlich schafft sie erst die Voraussetzungen dafür.

Die Klassiker: Absicherung und Ausgleich

In Medien und Alltagsgesprächen begegnet uns der Sozialstaat oft vor allem als Instrument gegen Armut und Ungleichheit. Das ist erstmal verständlich, denn sozio-ökonomische Verwerfungen abzufedern war ein zentrales Anliegen der sozialen Marktwirtschaft und bleibt bis heute eine Kernfunktion unseres Sozialsystems. Doch daraus folgt häufig der Fehlschluss, Sozialpolitik diene nur den Ärmsten der Armen.

Dabei wirkt der Sozialstaat weit darüber hinaus.  Er sichert nicht nur die grundlegendste Existenz, sondern gerade in Deutschland auch das, was man im Laufe des Lebens erreicht. Wer arbeitet, profitiert von Mindestlohn und Tarifverträgen. Wer mehr verdient, erhält mehr Arbeitslosengeld und eine höhere Rente. Eltern können sich auf Betreuung und Bildungsangebote verlassen und ein Krankheitsfall führt nicht in den finanziellen Ruin.

Zudem beruht Wohlstand auf Chancen: Wer sich durch Bildung und Leistung ein gutes Leben erarbeiten konnte, brauchte zumindest die Chance, die eigene Leistungsbereitschaft in Wohlstand zu übersetzen. Auch hier ist der Sozialstaat elementar, denn neben einer Angleichung extremer ökonomischer Unterschiede – oft irreführend als „Neiddebatte“ verschrien – trägt er zu Chancengerechtigkeit bei, indem er Bildungszugänge schafft und Startnachteile kompensiert.

Das Bindeglied: Zusammenhalt und Stabilität

Noch allgemeiner betrachtet, ist der Sozialstaat für die Gesamtgesellschaft ein Gewinn. Er fungiert als Bindeglied und Stabilisator eines Systems, das individuellen Wohlstand erst ermöglicht. Schon die CDU der Nachkriegsjahre stellte heraus, dass es auch der mangelnde soziale Ausgleich war, der die Weimarer Republik in den Abgrund führte. Das „Soziale“ der Sozialen Marktwirtschaft ist keine Beigabe aus gutem Willen  – es ist ihre Überlebensversicherung.

Gute Sozialpolitik fördert gesellschaftlichen Zusammenhalt und individuelle Teilhabe, aber auch politische Stabilität. Von diesen Vorteilen profitieren gerade diejenigen, die im demokratischen Deutschland durch eigene Leistung oder durch das Glück der Geburt in Wohlstand leben. Obwohl die Sorge vor dem Zusammenbruch von Demokratien allgegenwärtig geworden ist, wird die Bedeutung von Sozialpolitik für demokratische Resilienz in der aktuellen Debatte gerne unterschlagen.

Die Übersehenen: Freiheit und Wirtschaftskraft

Schließlich trägt der Sozialstaat auch zu Dimensionen bei, die heute aktiv gegen ihn in Stellung gebracht werden: Freiheit und Wirtschaftskraft. Er erweitert arbeitsbezogene Entscheidungsspielräume und macht Individuen unabhängiger, sowohl von den Bedingungen ihrer Geburt als auch unerwarteten Marktschwankungen.

Wer den Rückbau des Sozialstaats im Namen größerer Freiheit fordert, verengt den Blick auf eine rein negative Freiheit von staatlicher Intervention. Entscheidend ist jedoch die positive Freiheit, tatsächlich das erreichen zu können, was man sich vornimmt. Und diese Freiheit braucht Ressourcen.

Auch der aktuell besonders häufig aufgemachte Widerspruch zwischen Sozialausgaben und Wirtschaftskraft ist irreführend. Er reduziert die Sozialpolitik auf ihre Kostenseite und ignoriert dabei völlig ihre wirtschaftsfördernden Potenziale. Der Social Investment-Ansatz zeigt deutlich: Der Sozialstaat kann Humankapital aufbauen, Menschen in Beschäftigung bringen und in Krisenzeiten stabilisierend wirken. Das radikale Kürzen von Sozialausgaben mag auf den ersten Blick fiskalisch verlockend wirken, riskiert aber mittelfristig den Verlust wichtiger Stabilisatoren unseres Wirtschaftssystems.

Reformierung statt Rückbau

Aus all dem folgt: Die Verkürzung des Sozialstaats auf einen Kostenfaktor greift zu kurz. Der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt ist über die Jahre nur moderat gestiegen und liegt im internationalen Vergleich nicht außergewöhnlich hoch. Eine unterkomplexe Dauerkritik am Sozialstaat sägt am Ast, auf dem wir sitzen. Denn gerade Werte wie Wohlstand und Freiheit beruhen auch auf Strukturen, die der Sozialstaat sichert.

Natürlich ist Reformbedarf da: Bürger:innen und Ämter sind überlastet, Leistungen werden nicht in Anspruch genommen, Gerechtigkeitsdefizite sind spürbar. Und ja, auch die Finanzierung der Sozialpolitik muss auf nachhaltigere Füße gestellt werden. Die Reformkommission für einen modernen Sozialstaat ist daher ein wichtiger und richtiger Schritt – aber nur, wenn sie zu einer echten Modernisierung führt.

Wenn politische Spitzen jedoch die Legitimität des Sozialstaats grundsätzlich infrage stellen, wird eine Grenze überschritten. Selbst eine aus reinem Verhandlungskalkül gegenüber dem Koalitionspartner eingesetzte Kritik bleibt riskant: Sie untergräbt das Vertrauen in eine Institution, die unsere Gesellschaft zusammenhält.

So bleibt zu hoffen, dass die Stimmen, die nun auf die zahlreichen Vorzüge durchdachter Sozialpolitik hinweisen, nicht ungehört verhallen. Denn am Ende ist der Sozialstaat nicht frei von Fehlern, aber zweifelsohne eine große Errungenschaft.

Team

Dr. Dominic Afscharian

Projektmanager

Dominic Afscharian bringt seine Forschungserfahrung und sein Methodenwissen in die Projektarbeit am ZSP ein.

Nicholas Czichi-Welzer

Kommunikationsmanager Content, Digital & Video

Nicholas Czichi-Welzer kümmert sich um die Kommunikation des ZSP auf allen Kanälen und entwickelt gemeinsam mit der Kommunikationsleitung Strategien für die effektive Setzung sozialpolitischer Impulse.