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Eine seltene Chance: Die europäische „Child Guarantee“ als politischen Innovationsraum nutzen

generiert mit Midjourney

Kinder starten mit ungleichen Chancen ins Leben. Die europäische „Child Guarantee“ soll Abhilfe schaffen. Das kann gelingen – wenn die Staaten der EU bereit sind, voneinander zu lernen.

Veröffentlicht
10. September 2025
Format
Analyse

Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut. 7,4% können Grundbedarfe wie das Ersetzen kaputter Kleidung oder bestimmte regelmäßige Mahlzeiten nicht decken. 7,2% haben 2023 die Schule ohne Abschluss verlassen. Das drittreichste Land der Welt vernachlässigt seine Kinder – und damit seine Zukunft. 

Um gerechter und zukunftsfähiger zu werden, braucht Deutschland schnellstmöglich politische Ansätze, die benachteiligte Kinder wirksam unterstützen. Das wird nicht leicht, denn mit Blick auf den demographischen Wandel bleibt keine Zeit für politische Irrwege. Eine Empfehlung der Europäischen Union (EU), die sogenannte Child Guarantee, könnte hier zum Kompass für sinnvolle Lösungsansätze werden.

Kinder fördern, Zukunft sichern

Der Bedarf nach Investitionen in unsere Kinder steht außer Frage. Erstens folgt er aus überparteilichen Gerechtigkeitsabwägungen. Kinder können Herkunft und Umfeld nicht beeinflussen und haben für viele Jahre kaum die Möglichkeit, eigene Interessen zu vertreten. Die Folgen wirken sich oft über den gesamten Lebensverlauf aus – soziale Ungleichheit im Kindesalter unterminiert Chancengerechtigkeit und schwächt das Versprechen des sozialen Aufstiegs durch Arbeit.  

Zweitens entstehen durch soziale Benachteiligung in jungen Jahren politische Risiken. Die Stabilität unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung steht und fällt mit der Legitimität, die ihr durch die Bürger:innen zugeschrieben wird. Eine Wahrnehmung ungerechter Zugänge zu Chancen ist vor diesem Hintergrund höchst riskant, zumal soziale Ungleichheiten erheblich zur Erosion von Demokratien beitragen. Gerade junge Männer sind derzeit unter Jugendlichen ohne Schulabschluss überrepräsentiert und unterstützen die AfD in bemerkenswert großen Zahlen. Auch, wenn kausale zusammenhänge noch weiter erforscht werden müssen: die allgemeine Entwicklung ist aus demokratischer Perspektive beunruhigend.  

Drittens ist ein angemessenes soziales Angebot für Kinder auch im ökonomischen Interesse Deutschlands, da Verwerfungen am Lebensanfang ökonomische Prekaritäten und finanzielle Abhängigkeiten im gesamten Leben nach sich ziehen können. Insbesondere der Zugang zu Bildung ist somit eine wichtige Zukunftsinvestition. Gerade in Zeiten, in denen immer weniger Arbeitnehmer:innen immer mehr Rentner:innen finanzieren müssen, braucht es eine Politik, die die Arbeitsmarktchancen der Menschen möglichst früh im Leben fördert. 

Politik zwischen Konsens und Trägheit

Investitionen in das Wohlergehen von Kindern sind also über das gesamte politische Spektrum hinweg anschlussfähig. Wieso bestehen dennoch soziale Missstände im jungen Alter?  

Häufig wird als Antwort berechtigterweise darauf verwiesen, dass junge Menschen bei Wahlen unterrepräsentiert sind. Kinder selbst haben kein Wahlrecht und ihre Eltern gehören zu einer schwindend kleinen Gruppe mit heterogenen Interessen. Dieser Umstand allein reicht als Erklärung allerdings nicht aus. Kinderrechte genießen schließlich auch bei nicht unmittelbar Betroffenen breite Zustimmung. Kaum jemand sieht Kinderarmut als gerecht oder irrelevant an und Kindern wird laut sozialwissenschaftlicher Forschung besonders bereitwillig soziale Unterstützung gewährt. Kinder werden nicht übersehen, sondern sehenden Auges vernachlässigt.  

Ein zentraler Grund hierfür liegt in realpolitischen Hürden. Die gescheiterte Kindergrundsicherung hat dies beispielhaft gezeigt. Politische Ideen müssen auf anerkannte Probleme reagieren, auf die politische Agenda gesetzt, in Maßnahmen übersetzt und implementiert und evaluiert werden. Hinzu kommen knappe Ressourcen, politische Risiken und Widerstände, Zeitmangel sowie konkurrierende Interessen.  

Um vor diesem Hintergrund schneller zu wirksamen Lösungen zu finden, können Staaten gegenseitig von besonders vielversprechenden Maßnahmen lernen. So orientierte sich Deutschland etwa im Fall des Elterngelds an Schweden und der EU. Auch im Fall der sozialen Situation von Kindern kann der internationale Vergleich also eine Abkürzung sein – sofern es genügend Vergleichspunkte mit anderen Staaten gibt. 

Die Child Guarantee als Inspiration nutzen

Vor diesem Hintergrund bietet sich mit Blick auf die soziale Lage von Kindern aktuell eine seltene Chance: Die europäische Garantie für Kinder, oder Child Guarantee. Im Jahr 2021 durch die EU verabschiedet handelt es sich um eine Empfehlung, zu der sich alle Mitgliedstaaten der EU bekannt haben. Somit verfolgen nun 27 vergleichbare Länder dasselbe Ziel, nämlich „soziale Ausgrenzung zu verhindern und zu bekämpfen, indem der effektive Zugang bedürftiger Kinder zu einer Reihe wichtiger Dienste gewährleistet wird“. Konkret ist die Maßgabe „ein inklusiver und wirklich universeller Zugang“ zu (a) kostenloser frühkindlicher Betreuung, Bildung und Erziehung, (b) kostenloser Bildung im weiteren Kindheitsverlauf, (c) kostenloser Gesundheitsversorgung, (d) gesunder Ernährung und (e) angemessenem Wohnraum.  

Die Child Guarantee ist also mehr als eine Aufforderung an Einzelstaaten – sie schafft einen gigantischen Innovationsraum, in dem 27 Länder parallel politische Ideen entwickeln und ausprobieren. Explizites Ziel ist es dabei, „das wechselseitige Lernen zu erleichtern, Erfahrungen und bewährte Verfahren auszutauschen und Folgemaßnahmen […] zu ergreifen“. Vier Jahre nach ihrer Verabschiedung hat die Child Guarantee nun einen Punkt erreicht, an dem konkrete Maßnahmen und Fortschritte erkennbar werden sollten. Es besteht also eine ideale Gelegenheit für gegenseitiges Lernen – zumindest theoretisch. 

Vielversprechende Maßnahmen identifizieren, Wissenstransfer ermöglichen

In der Praxis erzeugt der Umfang des durch die Child Guarantee angestoßenen Innovationsprozesses ein ganz eigenes Ressourcenproblem: Bei der schieren Masse an politischen Ansätzen, die europaweit erprobt werden, kann es passieren, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Es ist denkbar, dass besonders vielversprechende Maßnahmen in einem Staat erprobt werden, aber nicht in die Wahrnehmung anderer Staaten vordringen. Gegenseitiges Lernen ist also kein Selbstläufer und die Vergangenheit hat gezeigt, dass es unter ungünstigen Bedingungen oft nicht reibungslos funktioniert.  

Entsprechend besteht akuter Bedarf an Vernetzung und Vereinfachung, um die potenziellen Synergien, die aus der Child Guarantee jenseits nationaler Einzelprojekte entstehen können, effektiv zu nutzen. Gerade Akteur:innen aus der Forschung und dem vorpolitischen Raum können hier Beiträge leisten, indem sie Debattenräume und Verbindungspunkte schaffen und die unübersichtliche Masse an Informationen auf verwertbare Fokuspunkte herunterbrechen.  

Mit unserem Projekt zur Child Guarantee in Deutschland beteiligen wir uns an diesem Prozess. Durch einen vergleichenden Ansatz und im Austausch mit internationalen Expert:innen zielen wir darauf ab, Debattenimpulse zu setzen und politische Ansätze zusammenzutragen, die zur Stärkung der sozialen Rechte von Kindern in Deutschland beitragen können. Im Idealfall werden so Wege für gegenseitiges Lernen geebnet. 

Im Selbstverständnis mag sich Deutschland eher als rule maker denn als rule taker sehen. In Anbetracht der Herausforderungen, vor denen das Land und seine Kinder stehen, ist es dennoch im Interesse aller, ein offenes Ohr für die Ansätze anderer zu haben. Gerechtigkeit, politische Stabilität und ökonomische Vernunft erfordern, dass jedes Kind echte Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben hat. Die erfolgreiche Umsetzung der Child Guarantee ist eine Mammutaufgabe – aber eine unverzichtbare Investition in unsere Zukunft. 

Team

Dr. Dominic Afscharian

Projektmanager

Dominic Afscharian bringt seine Forschungserfahrung und sein Methodenwissen in die Projektarbeit am ZSP ein.

Torben Fischer

Senior Projektmanager

Torben Fischer kümmert sich am ZSP nicht nur um die Projektplanung und -steuerung, er ist außerdem für die Konzeption und Entwicklung von Studien und Projekten zuständig.

Nele Hüfner

Alumni

Nele Hüfner war von Juli bis September 2025 Praktikantin am ZSP.