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Lost in Administration? Wie Digitalisierung den Zugang zu Sozialleistungen verbessern kann

Administration kann eine Herausforderung sein

Viele Menschen in Deutschland beantragen keine Sozialleistungen, obwohl sie Anspruch darauf hätten. Im dritten Teil unserer Blogreihe Smart Welfare zeigen wir, wie digitale Systeme dabei helfen können, Barrieren wie fehlende Informationen oder komplexe Antragsverfahren zu überwinden – vorausgesetzt, sie werden nutzer:innenzentriert und verantwortungsvoll gestaltet.

Veröffentlicht
11. Juli 2025
Format
Essay

Nichtinanspruchnahme als strukturelles Problem

Stellen Sie sich vor, es gibt die richtige Sozialleistung für Ihre Situation und Sie wissen nichts davon. So geht es vielen Menschen in Deutschland. Bei der Grundsicherung im Alter etwa beantragen 60 bis 68 Prozent der Anspruchsberechtigten keine Unterstützung. Neben fehlendem Wissen erschweren es komplizierte Formulare und unklare Zuständigkeiten, Sozialleistungen zu erhalten. Die sogenannte Nichtinanspruchnahme ist ein strukturelles Problem, das die Wirksamkeit des Sozialstaats beeinträchtigt.

In diesem Kontext rückt die Digitalisierung als Schlüsselthema in den Fokus. Eine digitalisierte Verwaltung birgt das Potenzial, bestehende Barrieren abzubauen und Menschen schneller zu erreichen. Der aktuelle Koalitionsvertrag erkennt dieses Potenzial an und betont, dass Leistungen durch digitale Angebote leichter zugänglich gemacht werden sollen. Was das in der konkreten Umsetzung bedeutet, bleibt derweil offen. Im Folgenden analysieren wir deshalb drei konkrete Felder, in denen ein moderner, digitalisierter Sozialstaat das Problem der Nichtanspruchnahme adressieren könnte.

Problemfeld 1: Wenn niemand Bescheid weiß – Informationsdefizite im Sozialstaat

Ein zentraler Grund für die Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen in Deutschland sind mangelnde Informationen. Viele Menschen wissen schlicht nicht, dass sie Anspruch auf Unterstützung haben. Das liegt auch daran, dass Anspruchsberechtigte selten proaktiv über die ihnen zustehenden Leistungen informiert werden. Stattdessen müssen sie selbst auf Möglichkeiten aufmerksam werden und die entsprechenden Informationen dann eigenständig recherchieren. Gerade hier könnte die Digitalisierung Abhilfe schaffen: durch automatisierte Hinweise, nutzer:innenfreundliche Portale und datenbasierte Ansprache.

Ein Blick nach Estland zeigt, was möglich ist. Dort sind 99% der öffentlichen Verwaltungsleistungen digitalisiert. Das Herzstück bildet eine sichere digitale Identität, die Bürger:innen den Zugang zu staatlichen Diensten erleichtert.  Nach dem sogenannten „Once-Only-Prinzip“ müssen Daten nur ein einziges Mal übermittelt werden.  Bei der Geburt eines Kindes beispielsweise werden dann automatisch alle relevanten Behörden informiert und Eltern erhalten proaktiv Informationen über ihnen zustehende Leistungen.

In Deutschland gibt es bereits erste Ansätze, die in eine ähnliche Richtung weisen. Ein Beispiel dafür ist der u. a. vom Deutschen Roten Kreuz entwickelte Sozialleistungsrechner. Das digitale Tool ermöglicht es nicht nur, unkompliziert individuelle Ansprüche zu berechnen. Es unterstützt Nutzer:innen laut DRK auch dabei, Anträge zu stellen, etwa durch mehrsprachige Ausfüllhilfen oder die automatische Erstellung druckfertiger Anträge. Gerade für Menschen in herausfordernden Lebenssituationen können solche Angebote eine wichtige Orientierung bieten.

Allerdings ist ihre Reichweite bislang begrenzt. Viele potenziell Anspruchsberechtigte kennen die bestehenden Tools nicht oder ihnen fehlen digitale Kompetenzen, um sie adäquat zu nutzen. Statt wie bisher auf Bottom-up-Initiativen einzelner Träger zu setzen, könnte eine staatliche Top-down-Strategie helfen: mit zentralen, flächendeckenden Informationsangeboten und einer digitalen Infrastruktur, die gezielt auf die Bedürfnisse der Bürger:innen zugeschnitten ist.

Problemfeld 2: Zu kompliziert, um zu helfen? Bürokratische Hürden

Ein weiterer zentraler Grund für die Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen sind komplexe und aufwendige Antragsverfahren. Wer Unterstützung beantragen will, muss sich häufig durch lange Formulare, zahlreiche Nachweise und unübersichtliche Zuständigkeiten kämpfen. Das verdeutlicht eine vom ZSP in Auftrag gegebene Umfrage zur Bundestagswahl 2025: Hier stimmten 72,3 Prozent der Befragten der Aussage zu, das Sozialsystem sei so unübersichtlich, dass Leistungen zum Teil nicht in Anspruch genommen würden.

Erschwerend kommt hinzu, dass gerade Gruppen, die besonders häufig von Armut betroffen sind – darunter ältere Menschen, Migrant:innen oder Menschen mit Behinderung –  mit bürokratischen Hürden zu kämpfen haben. Für sie ist der Zugang zu staatlichen Leistungen oft mit zusätzlichen Barrieren verbunden, etwa durch sprachliche Verständnisschwierigkeiten, fehlende Unterstützung im Umfeld, körperliche Einschränkungen oder eine geringe Vertrautheit mit amtlichen Verfahren.

Die Digitalisierung könnte solche Hürden abbauen, etwa durch zentrale Online-Portale. Ein Beispiel dafür findet sich erneut im Norden: In Dänemark werden Sozialleistungen sowie viele andere Verwaltungsangelegenheiten über einen zentralen Zugangspunkt abgewickelt. Über das Portal borger.dk können Bürger:innen nahezu alle staatlichen Leistungen beantragen – digital, personalisiert und ohne wiederholte Eingabe derselben Informationen. Die ressortübergreifende Nutzung von Daten beschleunigt Verfahren und erleichtert auch die Arbeit der Verwaltung.

In Deutschland ist mit dem „National Once Only Technical System“ ein ähnlicher Ansatz geplant. Einmal angegebene Daten sollen künftig verwaltungsübergreifend genutzt werden, gestützt u. a. auf die BundID als digitale Identität. Bislang nutzen jedoch lediglich rund vier Millionen Menschen die BundID.  Zudem bleiben die laut DESTATIS rund 4 Prozent der 16- bis 74-Jährigen ohne Internetzugang bislang außen vor. Um Teilhabe und Zugänglichkeit zu sichern, sollten digitale Angebote daher nicht nur gebündelt, sondern auch barrierefrei, mehrsprachig und mit analogen Kontingenzlösungen ausgestattet sein.

Problemfeld 3: Zwischen Scham und Skepsis – Emotionale Barrieren

Neben Informationsdefiziten und bürokratischen Hürden spielen auch emotionale und psychologische Faktoren eine Rolle dabei, warum viele Menschen keine Sozialleistungen beantragen. Ängste vor negativen Konsequenzen im Kontakt mit Behörden sowie das Gefühl von Scham und Stigmatisierung beeinflussen das Verhalten der Anspruchsberechtigten. Laut DIW Wochenbericht schrecken insbesondere die Unsicherheiten über mögliche Folgen eines Antrags ab.

Diese emotionale Hemmschwelle betrifft keineswegs nur Einzelfälle: Wer befürchtet, als „bedürftig“ abgestempelt zu werden, vermeidet häufig den Gang zur Behörde, selbst bei berechtigtem Anspruch. Die Angst vor gesellschaftlicher Abwertung oder peinlichen Situationen im Amt kann ein starker Hemmfaktor sein.

Team

Selina Florentine Schellies

ehem. Praktikantin

Selina Florentine Schellies unterstützte von April bis Juni 2025 das ZSP im Bereich Zukunftsfähiger Sozialstaat.

Viktoria Isfort

ehem. Praktikantin

Viktoria Isfort unterstützte von April bis Juni 2025 das ZSP in der Kommunikationsabteilung.