• Blog
  • Analyse

Ein Sozialstaat für das 21. Jahrhundert: Leistungen bündeln, Verwaltung zentralisieren, Kommunen entlasten

generiert mit Midjourney

In der medial ausgetragenen Debatte darüber, ob wir uns den Sozialstaat entweder nicht mehr leisten können oder er im Gegenteil das Fundament unserer sozialen Marktwirtschaft bildet, geht ein entscheidender Punkt unter: die Chance, die eine große Koalition für eine grundlegende Sozialstaatsreform bietet.

Veröffentlicht
15. September 2025
Format
Analyse

CDU und SPD haben die einmalige Gelegenheit, den Dschungel der Leistungen zu lichten und die historisch gewachsenen Sonderleistungen zusammenzulegen. Eine zentralisierte Verwaltung bietet großes Einsparpotenzial, ohne die Leistungen für die Bedürftigen zu verschlechtern und ist aufgrund des Fachkräftemangels in den Kommunen unumgänglich. Die Digitalisierung ermöglicht diesen Schritt erstmals.

Ein verwachsenes System

Der deutsche Sozialstaat ist der älteste der Welt. Seitdem Otto von Bismarck 1883 die Krankenversicherung einführte, sind immer mehr Risiken abgedeckt worden. Noch im Kaiserreich wurde die Rentenversicherung eingeführt, die letzten Ergänzungen waren die Pflegeversicherung und das Elterngeld. Jeder Ast des Sozialstaats ist für sich weiter gewachsen, bis ein Dickicht entstand, das niemand mehr durchdringt.  Das Gerechtigkeitsstreben des Sozialstaats hat sich selbst kannibalisiert. Die vielfältigen Leistungen und Anrechnungen führen nicht zu dem hehren Ziel, dass jeder Mensch bekommt, was er braucht, sondern zu einer hohen Nicht-Inanspruchnahmerate. Im Resultat sind alle überfordert, sowohl die Antragsteller:innen als auch die Kommunen.

 

Ein ganzes Heer an Sozialarbeiter:innen und Sozialrechtsanwält:innen unterstützt bei der Beantragung von Sozialleistungen. Ein großer Teil der Sozialverwaltung ist damit beschäftigt, Geld untereinander zurückzufordern. Insbesondere die aufstockenden Leistungen kommen nicht bei den Berechtigten an, was zu einer faktischen Schlechterstellung von Arbeiter:innen im Niedriglohnbereich gegenüber einigen Sozialleistungsbezieher:innen führt. Diese Beispiele werden in den Medien ausgebreitet und führen zu einem verletzten Gerechtigkeitsgefühl.

Es ist das Resultat einer langen Geschichte der deutschen Sozialpolitik, die ihre Ursprünge in einer Zeit vor Internet, Telefon und Faxgerät hat. Die Kommunen sind historisch für die Sozialhilfen zuständig. Bürger:innen konnten dort vorsprechen und ihre individuelle Armut beurteilt werden. Inzwischen ist das System vollkommen durchreguliert, der individuelle Sachbearbeiter handelt nach bundeseinheitlichen Vorschriften.

Der Bund entscheidet, der Bund zahlt, der Bund macht?

Im Zuge der Digitalisierung von Leistungen entwickeln gerade alle Kommunen – 11.000 Gemeinden oder 400 Kreise, je nach Leistung – eigene Softwarelösungen. Schlechte Prozesse werden zu schlechten digitalen Prozessen. Dabei wäre angesichts der stetig wachsenden technologischen Möglichkeiten gerade jetzt der richtige Zeitpunkt für einen Befreiungsschlag. Alle Geldleistungen des Sozialstaates könnten zu drei Leistungen zusammengeführt werden:

  1. Lohnersatzleistung: Bisher sind dies Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld, Krankengeld, Übergangsgeld und Elterngeld. All diese Leistungen ersetzen das vorherige Nettoentgelt zu 62 – 75% inklusive eines Zuschlags für Eltern. Alle Lohnersatzleistungen werden für einen begrenzten Zeitraum gezahlt, 14 Monate beim Elterngeld, 72 Wochen beim Krankengeld. Bis auf das Elterngeld sind diese Leistungen beitragsfinanziert.
  2. Mindestsicherung: Bisher Bürgergeld, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Hilfe zur Pflege, Asylbewerberleistungen und einige kleinere Leistungen[1]. Auch die vorgelagerte Grundsicherung, bestehend aus Wohngeld und Kinderzuschlag, sollte hier integriert werden, ebenso wie das BaföG als Mindestsicherung. Die Mindestsicherung ist bedarfsgeprüft und steuerfinanziert.
  3. Rente: Die Rente ist ihrer Geschichte und ihrem Wesen nach ebenfalls eine beitragsfinanzierte Lohnersatzleistung, lässt sich aber nicht in die anderen integrieren. Die Leistungshöhe hängt nicht vom letzten Gehalt ab, sondern spiegelt die gesamte Erwerbsbiographie wider. Zusätzlich gibt es politisch gewollte Renten und Rentenzuschläge, beispielsweise für Mütter, Geringverdiener:innen, Menschen mit Behinderung oder Witwen. Die Reform der Rente wird in einer gesonderten Kommission beraten und spielt daher hier keine weitere Rolle.

Die Bundesagentur für Arbeit könnte sowohl die Lohnersatzleistungen als auch die Grundsicherung zentral und digital für alle Berechtigten auszahlen. Das Einkommen würde auf Grundlage der Daten der Sozialversicherungen berechnet. In der Grundsicherung würden neben dem Einkommen aus Beschäftigung auch weiterhin sonstige Einnahmen sowie das Vermögen angerechnet. Dafür sind Selbstauskünfte ausreichend, die nach dem Vorbild der Einkommenssteuer stichprobenartig auf Grundlage der Steuerdaten geprüft werden. Dieses System würde automatisch mit einer einheitlichen Definition von Einkommen, Kindern und Haushalten arbeiten.

Auch die Beamt:innen und Selbstständigen

Der Vorschlag, Einkommen automatisiert über die Daten der Sozialversicherungen zu ermitteln, liegt schon lange auf dem Tisch. Im Gegensatz zu Steuerbescheiden liegen die Daten monatsaktuell, maschinenlesbar und vollständig für alle Mitglieder vor. In Bremen gibt es mit ELFE bereits ein funktionierendes System für das Elterngeld. Auf Bundesebene sind Versuche bisher stets daran gescheitert, dass die Einkommen von Beamt:innen und Selbstständigen der Rentenversicherung nicht vorliegen. Das wurde auch der Kindergrundsicherung zum Verhängnis. Damit ein einfaches System funktionieren kann, braucht es eine Einigung auf den Grundsatz: Wer nicht sozialversichert ist, ist nicht hilfebedürftig.

Grundsätzlich sind nur zwei Gruppen in Deutschland nicht sozialversichert: Beamt:innen und Selbstständige, die aus gesetzlicher Kranken- und Rentenversicherung ausgetreten sind. Das sind 10% der Bevölkerung, von denen die meisten wohlhabend sind.

Die Beamt:innen haben ein eigenes soziales Sicherungssystem. Sie können nicht arbeitslos werden, bei Krankheit werden die Bezüge weiter gezahlt und eine Mindestpension schützt vor Grundsicherung im Alter. Wenn die Bezüge auch bei Elternschaft weitergezahlt würden, wären keine ergänzenden Sozialleistungen mehr nötig. Beamt:innen haben einen Anspruch auf Beihilfe im Krankheits- und Pflegefalle und sind daher in der Regel auch nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert, sondern sichern die Restkosten in der privaten ab.

Auch Selbstständige können entscheiden, sich privat gegen Krankheit und für die Rente abzusichern. Die freien Berufe, wie Ärzt:innen, Anwält:innen und Architekt:innen, haben dafür eigene Versorgungswerke. In der gesetzlichen Krankenversicherung können Selbstständige wählen, ob sie sich auch gegen Einkommensverlust bei Krankheit versichern möchten. Schätzungsweise 350.000 Selbstständige der Unter- und Mittelschicht sind in der privaten Krankenversicherung. In der Corona-Pandemie wurde deutlich, dass diese Gruppe nicht ausreichend abgesichert ist. So hatte sie keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld, weil sie nicht Mitglied in der Arbeitslosenversicherung ist.

Im Bundesministerium für Arbeit und Soziales liegen Pläne vor, die Kleinselbstständigen in die Arbeitslosen- und Rentenversicherung einzubeziehen, wenn sie keine andere ausreichende Absicherung nachweisen können. Damit wäre dieses Problem gelöst. Bis dahin müssten die Einkommen der wenigen Personen, die dies betrifft, im Leistungsfall händisch geprüft werden. Eine so kleine Sondergruppe braucht eine Sonderlösung und darf nicht die Vereinfachung für alle blockieren.

Entsteht der gläserne Bürger?

Die notwendigen Daten zur Auszahlung der beschriebenen Leistungen liegen heute bereits bei den Sozialversicherungen vor. Sie kennen das Einkommen aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, ihre Adresse, ihr Geburtsjahr und ihre abhängigen Kinder. Die Haushaltszusammensetzung ist nur für Haushalte in der Grundsicherung relevant, für bedarfsabhängige Leistungen – Grundsicherung, Wohngeld, Kinderzuschlag, BaföG – muss dies bereits heute offengelegt werden. Der Sozialversicherung liegen Daten zu mitversicherten Kindern und Ehegatten vor. Unverheiratet zusammenlebende Paare werden weder bei der Sozialversicherung noch beim Finanzamt erfasst. Das Finanzamt bekommt alle Einkommen automatisch von Arbeitgeber, Sozialversicherungen und Banken gemeldet.

Es müssten keine neuen Daten erhoben werden. Die vorliegenden Daten müssten nur automatisiert verarbeitet werden. Die Berechnungsvorschriften der Sozialleistungen lassen sich gut in einen Algorithmus übersetzen. Der Einsatz von KünstIicher Intelligenz ist weder nötig noch zulässig.

Ein Gewinn für unsere Kommunen

Kita, Schwimmbad, Seniorcafé – Einrichtungen wie diese sind die Basis des sozialen Zusammenhalts vor Ort. Die Kommunen sollten daher all ihre Kraft darauf verwenden können, die soziale Infrastruktur zu stärken und zu stützen. Doch sie leiden bereits heute unter Fachkräftemangel, was sich mit dem Renteneintritt der geburtenstarken Jahrgänge nur noch verstärken wird.

Sozialarbeiter:innen, Pädagog:innen und Pflegekräfte werden in den Einrichtungen vor Ort gebraucht und sollten keine Leistungsberechnungen machen.  

Durch die vorgeschlagenen Zusammenlegungen und Zentralisierungen würden Kommunen von einem riesigen bürokratischen Aufwand entlastet und könnten sich auf die eigentlichen Aufgaben konzentrieren: Menschen auf den Arbeitsmarkt zurückbringen, Pflege sicherstellen oder Wohnungslosigkeit verhindern. Die Sozialämter blieben bestehen, um zu beraten, mündliche Anträge und Anträge auf Papier entgegenzunehmen und weitergehende Hilfen zu koordinieren.

Eine Blaupause für die Sozialstaatskommission

Die Sozialstaatskommission bietet die Möglichkeit die großen Linien einmal zu einen.

  1. Alle Sozialleistungen werden vom Bundesministerium für Soziales gesteuert. Das Wohngeld, der Kinderzuschlag, das Krankengeld[2] und das BaföG werden integriert. Nur so ist eine einheitliche Verwaltung möglich.
  2. Das „Lohnabstandsgebot“ wird über Freibeträge und Hinzuverdienstgrenzen sichergestellt. Es braucht kein Sondersystem mehr für Menschen, die Renten oder Gehalt beziehen und nur aufgrund ihrer Wohnkosten oder ihrer Kinder arm sind.
  3. Es gibt einen Regelsatz für Erwachsene, einen für Kinder und einen für den Haushalt – nach dem Vorschlag des Normenkontrollrats. Sonderbedarfe werden in Sondersystemen angemessen gelöst.
  4. Wohnkosten werden nach dem Prinzip des Wohngeldes pauschaliert. Für jede Kommune und jede Haushaltgröße gibt es eine Pauschale. Sowohl Überzahlung als auch Unterdeckung[3] werden in Kauf genommen um die Verwaltung hinsichtlich der Prüfung von beispielsweise Heizkostenrückzahlungen zu entlasten.

Eine echte Perspektive

Das Online-Zugangs-Gesetz und die Nachnutzung von IT-Entwicklungen sind faktisch gescheitert. Deutschland hat das komplizierteste Sozialsystem Europas und gleichzeitig das am wenigsten digitalisierte. Ein Weiter-So kann nicht mehr lange funktionieren. Historische Ansprüche auf Sonderleistungen müssen Grenzen haben, um das Funktionieren für alle zu gewährleisten.

Kürzungen in den Sozialleistungen können nicht im Regelsatz erfolgen, denn die Mindestsicherung ist verfassungsrechtlich garantiert. Sie müssen daher in der Verwaltung stattfinden. Ein einfacher und unkomplizierter Sozialstaat nimmt den Menschen die Angst vor dem Wandel, weil er Sicherheit bietet. Er bietet die Chance für einen gemeinsamen, gerechten Aufbruch ins 21. Jahrhundert.

[1] Der Regelsatz des Bürgergelds bildet die Grundlage für alle Leistungen, doch bei Detailregelungen – zum Beispiel zur Anrechnung eines KfZs als Vermögen – bestehen Unterschiede, die nicht sachgerecht sind.

[2] Das Krankengeld im wettbewerblichen System der gesetzlichen Krankenversicherungen führte in den letzten Jahren zu vielen Problemen und gesetzlichen Nachsteuerungen. Es dort rauszunehmen, wäre die einfachste Möglichkeit, diese zu adressieren.

[3] Bereits heute wird im Bürgergeld akzeptiert, dass Haushalte Teile der Mietkosten aus dem Regelsatz bezahlen, weil sie trotz Kostensenkungsaufforderung nicht umziehen (können). „Im Durchschnitt des Jahres 2024 überstiegen in rund 334 000 Bedarfsgemeinschaften die tatsächlichen laufenden Kosten der Unterkunft und Heizung die anerkannten Kosten. Bezogen auf alle Bedarfsgemeinschaften mit laufenden anerkannten Kosten der Unterkunft entspricht dies einem Anteil von 12,6 Prozent.“ Quelle: Drucksache 21/1005

Team

Dr. Ines Verspohl

Policy Fellow

Dr. Ines Verspohl ist Policy Fellow am ZSP und Direktorin des Sozial-Klimarats.