Zukunftsfähige Sozialpolitik braucht Zeitpolitik.

Dr. Katharina
Bohnenberger
Policy Fellow ZSP

Dr. Katharina Bohnenberger zeigt, dass der hohe zeitliche Aufwand für die Organisation und Beantragung von Sozialleistungen eine verdeckte Barriere zur Inanspruchnahme von sozialen Rechten darstellt. Sie fordert eine zukunftsfähige Sozialpolitik, die Zeit als gleichwertige Ressource neben monetärer Verteilung systematisch berücksichtigt.

In der Wissenschaft wird zunehmend anerkannt, dass jeder Mensch ein Recht auf einen fairen Anteil an frei verfügbarer Zeit hat und Zeit als gleichgewichtete Ressource neben monetärer Verteilung berücksichtigt werden soll. Der Sozialstaat selbst gestaltet Zeitarmut bzw. Zeitwohlstand und die Zeitungleichheit seiner Bürger:innen mit. Während Zeitarmut durch einige Aktivitäten des Sozialstaats, wie beispielsweise Kinderbetreuung oder Arbeitszeitgesetze, gelindert wird, wird bisher jedoch kaum berücksichtigt, inwiefern Sozialpolitik Zeitarmut und Zeitungleichheit auch verstärkt.
Zeitverluste können beispielsweise durch die Organisation und Beantragung von sozialstaatlichen Leistungen (z. B. Kita-Plätze, Formulare), aber auch explizite und implizite Vorschriften, Regelungen oder Verhaltensempfehlungen entstehen, welche die frei verfügbare Zeit einschränken (z. B. Vollzeitnorm als Voraussetzung gegen Altersarmut). Je nach sozialpolitischem Programm und Zielgruppe unterscheidet sich der zeitliche Aufwand für Sozialleistungen allerdings stark (z. B. Arbeitslosengeld vs. Bürgergeld). Aber auch je nach Eigenschaften einer Person, z. B. einer Behinderung oder dem Familienstatus, sind die Zugänge zu gleichen Leistungen nicht mit dem gleichen zeitlichen Aufwand zu bewältigen.
Der Sozialstaat verschärft Zeitarmut, wenn Personen ihrer Zeitautonomie beraubt werden oder Einschränkungen erfahren, wenn sie sich nicht den Zeitregimen von sozialstaatlichen Institutionen beugen (können). Der zeitliche Aufwand kann damit ein Erklärungsfaktor für die Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen sein. Zeitkosten als Zugangsbarrieren sind auch verteilungspolitisch problematisch, da wir kaum etwas darüber wissen, wer durch den Zeitaufwand auf welche Weise von der Inanspruchnahme der Leistungen abgehalten wird. Zudem kann man Menschen zeitlich – im Vergleich zu finanziell – kaum, und vor allem nicht nachträglich, für Zeitverluste kompensieren.
Insgesamt stellt sich also die Frage, inwiefern soziale Rechte als gesichert gelten, wenn zu ihrer Inanspruchnahme (möglicherweise unleistbare) Zeitkosten aufgewendet werden müssen. Der letzte Armuts- und Reichtumsbericht adressiert Zeitarmut, Zeitreichtum, und Zeitungleichheit nicht systematisch – für die Lösung aktueller sozialpolitischer Herausforderungen und die Garantie eines gerechten Sozialstaats gilt es, diese Lücke der Zeitpolitik zu schließen.

5

Nächste These