Zeitsouveränität ist ungleich verteilt.

Aljoscha
Jacobi
Soziologe

Aljoscha Jacobi betont, dass Zeitsouveränität ein Kernkonflikt moderner Gesellschaften ist, der flexible „Digital Nomads“ von Beschäftigten mit strikten, betrieblich strukturierten Alltagen trennt. Er kritisiert, dass Autonomie gerade dort am wenigsten formal abgesichert ist, wo Flexibilitätsforderungen am größten sind.

Die Frage der Arbeitszeit ist ein Kernkonflikt moderner Gesellschaften. Sie prägt den Alltag und die Lebenschancen von Beschäftigten. Im Zentrum steht dabei die Frage nach Zeitsouveränität, noch direkter: Autonomie. Die Auseinandersetzungen um den 8-Stunden-Tag brachten auch ein normatives Versprechen von einem guten Leben.
Heute ist dieses Versprechen noch größer geworden, damit geht aber auch eine (neue) Ungleichheit einher. Am oberen Ende der Autonomieskala steht das Idealbild des „digital nomad“, der flexibel und ortsunabhängig arbeiten kann. Am unteren Ende finden sich dagegen Beschäftigte in Schichtarbeit oder persönlichen Dienstleistungen, deren Alltag rigider durch betriebliche Vorgaben strukturiert ist.
Empirische Studien zeigen: Dort, wo Gewerkschaften nach wie vor stark sind, konnten in den letzten Jahren Zuwächse an Zeitsouveränität erreicht werden, etwa durch tarifvertraglich gesicherte Arbeitszeitkonten. Auch der Fachkräftemangel hat zur Stärkung der Autonomie in betroffenen Bereichen beigetragen: Unternehmen nutzen attraktivere, flexiblere Modelle, um Fachkräfte zu halten.
Gleichzeitig zeigt sich ein Widerspruch: Gerade dort, wo politisch besonders oft Vereinbarkeitsprobleme gesehen werden – in den klassischen „Frauenberufen“ – ist Zeitsouveränität am wenigsten durch formale Regelungen abgesichert. Diese Ungleichheit lässt sich nicht allein durch die spezifischen Tätigkeiten oder die geringere gewerkschaftliche Verhandlungsmacht erklären. Vielmehr deutet sie auf andere Mechanismen hin, zum Beispiel darauf, dass in männerdominierten Berufen Forderungen nach Flexibilität eher als legitime Ansprüche behandelt werden, während sie in frauendominierten Bereichen häufig als Ausnahme oder Belastung gelten.

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