Zeit ist Geld – und andersherum.

Dr. Franziska
Dorn
Ökonomin

Dr. Franziska Dorn argumentiert, dass der Lebensstandard in politischen Debatten unvollständig bewertet wird, solange die Ressource Zeit im Vergleich zum Einkommen systematisch vernachlässigt wird. Sie fordert Zeit und Geld in statistischen Modellen gemeinsam zu analysieren.

Zeit für unbezahlte Arbeit schränkt ein und trägt zum Lebensstandard bei. Wer unbezahlte Arbeit übernimmt, schränkt seine Freiheiten, Teilhabe und Chancen auf Erwerb ein. Gleichzeitig trägt diese Arbeit wesentlich zum Konsum und damit Wohlstand von Familie und Gesellschaft bei.
Nehmen wir zwei Haushalte mit gleichem Einkommen, je zwei Erwachsenen und zwei Kindern. Im einen Haushalt arbeiten beide Erwachsenen Vollzeit, im anderen nur eine Person. Basierend auf klassischen Einkommensarmutsmaßen werden diese Haushalte gleich bewertet. Ist das adäquat?
Der Unterschied liegt in den Zeitressourcen. Der Haushalt mit zwei Vollzeit-Erwerbstätigen muss für viele unbezahlte Verpflichtungen – Kinderbetreuung, Kochen, Pflege – Marktsubstitute kaufen, wie Kita-Plätze, fertiges Essen, Dienstleistungen. Am Ende bleibt weniger verfügbares Einkommen. Der andere Haushalt kann mehr unbezahlte Arbeit selbst leisten und damit Ausgaben sparen. Kurz gesagt: Zeit kann Geld sparen, und Geld kann Zeit kaufen.
Wenn wir den Lebensstandard messen wollen, müssen wir Zeit und Geld zusammendenken. Entscheidend ist, Bündel aus Zeit und Einkommen zu definieren – sowohl als Schwellenwerte für Armut als auch als Orientierung für angestrebte Lebensstandards. Dazu eignen sich statistische Modelle wie die bivariate relative Armutslinie, die auf der gemeinsamen Verteilung von Zeit und Einkommen basiert. Dieses Modell bietet eine Analyse abseits von Indizes und Mittelwerten und eröffnet so ein differenzierteres Bild. Ein anderer Ansatz passt die Armutsgrenze an die fehlenden Stunden unbezahlter Arbeit an, indem diese auf Grundlage der Kosten für Marktsubstitute monetarisiert und auf die Einkommensarmutsgrenze aufgerechnet werden. Beide Verfahren gehen unterschiedlich vor und führen daher zur Identifikation verschiedener Bevölkerungsgruppen als zeit- und einkommensarm, berücksichtigen jedoch jeweils den Wert unbezahlter Arbeit.
Diese Debatte zeigt, dass wir mehr empirische Analysen benötigen, um Zeit- und Einkommensarmut zu definieren und sichtbar zu machen. Nur wenn deutlich wird, wohin wir gesellschaftlich wollen, lassen sich politische Maßnahmen entwickeln, die höhere Lebensstandards ermöglichen, Gleichberechtigung fördern und gesellschaftliche Transformation vorantreiben.

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