Zeit ist eine Frage der Gerechtigkeit.

Mareice
Kaiser
Journalistin

Mareice Kaiser betrachtet Zeit als Gerechtigkeitsfrage, da Menschen in prekären Jobs oder intensiver Sorgearbeit keine Zeit für sich selbst haben. Sie zeigt, dass die Perspektive dieser Menschen im öffentlichen Diskurs unsichtbar bleibt, weil ihre Zeit vollständig durch Verpflichtungen gebunden ist.

Foto: Jana Rodenbusch
Seit vier Wochen soll ich diesen Text abgeben. Schreiben ist mein Beruf und ich mache ihn gern, meistens. Diesen Text möchte ich schreiben, weil ich ihn wichtig finde.
Aber: Ich hatte keine Zeit. Immer war irgendwas – andere Jobs, mein Kind, die Sommerferien, eine Krankheit und dann: Urlaub. Ein Wort, das in meinem Leben noch nicht so lange existiert. Genau wie Zeit. Das Wort existiert zwar in meinem Leben, aber die Zeit für mich, zum Beispiel im Urlaub, die ist bei mir noch immer die absolute Ausnahme. Viele Menschen können von dieser Zeit, Zeit für sich, nur träumen.
Sara aus Düsseldorf, die aus Brasilien nach Deutschland kam und als alleinerziehende Mutter von zwei Kindern als Haushaltshilfe arbeitet. Zeit für sich hat sie nie. Die Häuser von reichen Menschen, die sie an sieben Tagen die Woche putzt, gehen vor. Ihr Geld verdient sie nicht nur für sich und ihre Kinder, sondern auch, um ihre Herkunftsfamilie in Brasilien zu unterstützen.
Momo aus Leipzig, die als Busfahrerin tätig ist und deren Arbeitstag oft morgens um 2:48 Uhr startet. Wenn ihre Kinder abends mit ihr Zeit verbringen wollen, muss sie schlafen. Sie arbeitet dann im verkürzten sogenannten „Muttidienst“ – die Stunden muss sie mit Frühschichten wieder aufholen.
Simone aus München, die sich rund um die Uhr um ihren kranken und behinderten Sohn kümmert. Rund um die Uhr bedeutet: 24 Stunden, jeden Tag, ohne Pause. Sie kümmert sich um ihn und niemand kümmert sich um sie. Sie würde gern Erwerbsarbeiten, aber wann soll sie das machen, neben 24-Stunden-Pflege?
Sie alle hätten diesen Text schreiben sollen, denn sie bleiben im Diskurs um Zeit und Gerechtigkeit unsichtbar. Sie haben keine Zeit für solche Texte. Und sie haben keine Zeit für sich selbst.

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