Zeit als X-Faktor unseres Leistungsversprechens.

Moritz
Rüppel
Bereichsleiter ZSP

Moritz Rüppel beleuchtet, warum das Aufstiegsversprechen für niedrige bis mittlere Einkommen trotz hohen zeitlichen Aufwands zunehmend scheitert. Die soziale Schere vergrößert sich, weil finanziell Erfolgreiche echte freie Zeit kaufen, während Geringverdienende ihre knappe Zeit für Extra-Schichten oder aufwändige Sozialleistungsanträge binden müssen.

Foto: Nicholas Czichi-Welzer
Ein Gedankenexperiment: Hätten wir die Möglichkeit, die Tage eines jeden Menschen um eine Stunde zu verlängern, wie würde sich das auf unsere soziale Mobilität auswirken?
Schauen wir uns eine Gruppe mit großem Frustrationspotenzial an:
Bei den niedrigen bis mittleren Einkommen haben viele Menschen das Gefühl, auf der Stelle zu treten – traditionelle Status-Ziele geraten hier immer öfter außer Reichweite und Sorgen um (Alters-)armut nehmen zu, während vermögende Haushalte ihre finanziellen Polster trotz multipler Krisen vergrößern. Für viele Menschen greift so ein Grundpfeiler unserer sozialen Marktwirtschaft nicht mehr: Das Aufstiegsversprechen, dass sich Anstrengung im wahrsten Sinne auszahlt. Und das, obwohl diese Gruppe häufig besonders hohen (zeitlichen) Aufwand betreibt. Warum also scheint eine Stunde Zeit von so ungleichem (finanziellen) Gegenwert zu sein?
Während in der Öffentlichkeit Zeitknappheit insbesondere bei finanziell erfolgreichen – und damit als fleißig wahrgenommenen – Personen vermutet wird, ist sie tatsächlich folgenreicher bei sozio-ökonomisch schlechter gestellten Menschen. Selbst wenn Zeit bei „erfolgreicheren“ Personen absolut knapper ist, ist die freie Zeit dort durch die erkaufte Abwesenheit von Verpflichtungen häufig tatsächlich frei verfügbar. Wer demgegenüber aber nur gerade so über die Runden kommt, nutzt „freie“ Zeit, um extra Schichten im Job zu machen oder in aufwändigen Verfahren ergänzende Sozialleistungen zu beantragen. Am Ende mag damit finanziell zumindest kurzfristig etwas mehr rausspringen – im Vergleich zu Menschen, die diese Zeit für nachhaltigere Entfaltung nutzen können, vergrößert sich jedoch der Abstand. Gleichzeitig verbleibt dieser Gruppe gegenüber arbeitslosen Leistungsbeziehenden oft nur dann ein Plus, wenn sie sich neben der Vollzeitarbeit durch den zeitintensiven Beantragungsdschungel ergänzender Sozialhilfen kämpft. So wird Zeit gerade in Anbetracht unseres krankenden Aufstiegsversprechens in beide Richtungen zum entscheidenden Treiber.
Wir müssen daher die Opportunitätskosten eines solchen Zeitverlusts stärker beleuchten. Denn dass Menschen ungleich viel Zeit übrigbleibt, ist nur auf den ersten Blick binär. Tatsächlich fehlt sie überall dort, wo Kreativität entstehen kann, eigene Projekte konzipiert und Talente gefördert werden, wo Entscheidungsqualität durch Informationen und Bedenken zunimmt. Diese bisher unterschätzte Währung sorgt an den wirklich entscheidenden Stellen für eklatante Wettbewerbsnachteile.
Zurück am anfänglichen Gedankenexperiment lässt sich daher annehmen, dass die sozio-ökonomische Schere weiter auseinanderdriften würde. Moderne Zeitpolitik darf daher nicht bei der absoluten Verteilung von Zeit haltmachen. Arbeitsmarktpolitische Debatten, wie um die 4-Tage-Woche, greifen (noch) zu kurz. Um die Potenziale zusätzlicher Zeit für mehr Menschen zugänglich zu machen, braucht es Angebote, die echte freie Zeit ermöglichen.

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