Wer keine Zeit hat, ist nicht frei.

Prof. Dr.
Harald Welzer
Sozialpsychologe

Prof. Dr. Harald Welzer argumentiert, dass die Verfügung über Zeit ein Herrschaftsmittel ist, da Menschen ohne sie keine kritischen Gedanken zur Veränderung ungerechter Verhältnisse fassen können. Der Zeitmangel kann dabei aus ökonomischen Zwang resultieren, aber auch durch redundante digitale Kommunikation verursacht werden.

Foto: Magdalena Türtscher/Magma
Die Verfügung über Zeit ist ein Herrschaftsmittel: Menschen, die keine Zeit haben, kommen nicht auf eigene Gedanken und daher nicht auf die Idee, dass man Verhältnisse verändern kann, die zum Beispiel ungerecht oder ausbeuterisch oder überhaupt überlebensfeindlich sind.
Daher sollte man sofort misstrauisch werden, wenn behauptet wird, dass digitale Technologien jede Menge Zeit sparen. Erfahrungsgemäß war das noch nie der Fall, und auch der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Ökonom Daron Acemoglu hat nirgendwo eine Erhöhung der Produktivität durch Einsatz etwa von KI feststellen können. Digitale Medien fressen Zeit, weil Kommunikation gegenüber dem analogen Zeitalter in extremer Weise redundant geworden ist – je mehr man kommuniziert, desto mehr Kommunikation entsteht. Und die zu bedienen kostet – Zeit.
Hier ist es entleerte Redundanzkommunikation, die unfrei macht. Das ist allerdings ein sehr luxuriöser Zeitmangel im Vergleich zu jenem, den Menschen erleiden, die etwa als Alleinerziehende schlecht bezahlt arbeiten und wegen der erforderlichen Flexibilität womöglich sogar zwei Jobs machen müssen.
Beide Arten von Zeitmangel, der luxuriöse und der ökonomisch erzwungene, machen unfrei, weil sie den Menschen die leere Zeit nehmen, die man zum Denken, zum Ausprobieren, zum gemeinsamen Spazierengehen oder zum Nichtstun braucht. Ohne leere Zeit gibt es keinen Raum für Neues, es gibt aber auch keinen Raum für Kritik oder gar für Widerstand.
Die Aneignung von Arbeitskraft war und ist immer auch die Enteignung von Zeit. Genau deshalb stand am Beginn der Arbeiterbewegung in der Frühzeit der Industrialisierung der Kampf um die Arbeitszeit. Die Arbeiterinnen und Arbeiter zogen nachts vor die Häuser der Fabrikanten und machten mit Töpfen, Trommeln und Tröten einen Höllenlärm, um denen, die ihnen tags die Zeit raubten, nachts die Schlafenszeit zu nehmen. Der Kampf um soziale Gerechtigkeit war von Anfang an ein Kampf um die Zeit – eigene Zeit gegen enteignete Zeit.
Eigene Zeit ist die Voraussetzung der Freiheit.

5

Nächste These