
Group Appeals

Strategische Bezugnahme auf Gruppen in der politischen Kommunikation
Das Policy Grant-Projekt „Group Appeals – The Political Communication of Eco-Social Policies in Germany“ untersucht systematisch die Verwendung von gruppenspezifischen Ansprachen im Kontext klimapolitischer Maßnahmen. In ihrem Gastbeitrag erläutern Dr. Leonce Röth und Dr. Philip Rathgeb, was Group Appeals ausmacht und warum ihnen in der politischen Kommunikation eine große Bedeutung zukommt.
Einleitung
„Wir setzen auf die Leistungsträgerinnen und Leistungsträger unserer Gesellschaft.“ So beschrieb die SPD 1998 ihre Definition einer „Neuen Mitte“ und kündigte damit die Kehrtwende an, welche die Partei in den Jahren unter Gerhard Schröder in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik vollziehen sollte. Leistungsträger war zuvor der Begriff für eine Gruppe, deren Interessen primär von Mitte-rechts Parteien bespielt wurden. Nun machten die Sozialdemokrat:innen ihn sich zu eigen. Derartige historische Entwicklungen in der Bezugnahme auf Gruppen und deren strategische Bedeutung werden wissenschaftlich vor allem unter dem Begriff Group Appeals behandelt.
Was genau sind Group Appeals?
Group Appeals setzen sich aus der Erwähnung einer Gruppe in Verbindung mit einer positiven, neutralen oder negativen Konnotation derselben zusammen. Wörtlich übersetzt würde der Begriff den Appell an eine Gruppe implizieren. Allerdings bezieht sich das Konzept weniger auf eine Aufforderung, die einem Appell zugrunde liegt, als auf eine gruppenspezifische Bezugnahme, die auch ganz ohne Aufforderung auskommen kann. Es gibt viele Formen von Gruppen, wie Angehörige von Institutionen, Parteien oder Organisationen. In unserem Projekt konzentrieren wir uns auf soziale Gruppen, die wir als Kollektive von Menschen mit gemeinsamen Merkmalen definieren. Spezifische Gruppen sind zum Beispiel Familien, junge Menschen, Mieter:innen, Haushalte im ärmsten Drittel der Bevölkerung, Einwander:innen oder Reiche. Zu den sozialen Gruppen gehören aber auch allgemeine Kollektive wie Verbraucher:innen, das Volk, Bürger:innen, Steuerzahler:innen oder „hart arbeitende“ Menschen.
Die Gruppen können mit verschiedenen Mitteln positiv, neutral oder negativ dargestellt werden. So können ihre Errungenschaften, ihre gesellschaftliche Bedeutung und ihre Einstellungen positiv gerahmt werden. Politiker:innen können argumentieren, dass die Gruppe mehr verdient, als sie derzeit hat, oder sie mit Eigenschaften in Verbindung bringen, die allgemein als positiv gelten. Umgekehrt können soziale Gruppen für ihr Verhalten und ihre Einstellungen kritisiert werden oder mit Aspekten und Eigenschaften in Verbindung gebracht werden, die überwiegend als negativ gelten. In aller Kürze bezeichnet ein Group Appeal daher die positive, neutrale oder negative Bezugnahme eines politischen Akteurs auf eine bestimmte Gruppe.
Wo werden sie verwendet?
Die Erwähnung und Beurteilung von sozialen Gruppen sind in der politischen Kommunikation allgegenwärtig und finden sich explizit in etwa jedem dritten gesprochenen oder geschriebenen Satz politischer Parteien. Darüber hinaus werden Gruppen oft implizit durch bestimmte politische Positionen und Stile angesprochen. Wer adressiert wird und auf welche Art und Weise, ändert sich im Zeitverlauf und im Kontext bestimmter politischer Themen. Die Bezugnahme auf soziale Gruppen ist auch im Diskurs über die Eindämmung des Klimawandels zentral, da politische Maßnahmen, die auf die Reduktion von CO2 abzielen, auch starke ökonomische und verteilungspolitische Implikationen haben. Das sogenannte Heizungsgesetz und die damit einhergehende gesellschaftliche Debatte sind eine gute Illustration dieser Entwicklung. Grundsätzlich werden hier wichtige Interessen verschiedener Gruppen verhandelt. Die Wirkung auf den CO2-Verbrauch genauso wie verteilungspolitische Fragen zwischen Immobiliengesellschaften, Eigentümer:innen, Mieter:innen, Energieunternehmen, armen und wohlhabenden Menschen, sozialem Wohnungsbau, Kommunalpolitik sowie die unterschiedliche Betroffenheit von Menschen in Städten und ländlichem Raum müssen zusammen gedacht und kommuniziert werden. Entsprechend findet sich eine breite explizite Bezugnahme auf soziale Gruppen in der Kommunikation der Parteien, Verbände und Medien zu diesem Thema.
Beispielweise zitiert die TAZ im Kontext einer Besprechung des Heizungsgesetzes Söder, der die CSU als „den Anwalt der Mitte, der Normalverdiener, der hart arbeitenden Leute“ bezeichnete und sich dafür aussprach, dass vor allem Energie und Lebensmittel billiger werden müssten (Baur 2023). Dieses Beispiel verdeutlicht, wie Vertreter:innen von Klimapolitik mit hart arbeitenden Menschen kontrastiert werden, deren Energiekosten sie verteuern. Die positive Bezugnahme wird hier sehr explizit gemacht, indem sich Söder als Anwalt der genannten Gruppen bezeichnet. In einem anderen Beispiel berichtet Welt Online von einer Podiumsdiskussion mit Robert Habeck. So heißt es: „Der Philosoph Habeck aber hält es dialektisch und mit Kant: Das Haushaltsurteil, negative Freiheit, bedeute für spätere Generationen eine Freiheit von Schulden“ (Casper 2023). Hier wird Habeck als akademisch porträtiert, der das Verfassungsgerichtsurteil zum Haushalt positiv wendet, da es der nächsten Generation zugutekommt.
Wie unterscheiden sie sich je nach Akteur:in?
Grundsätzlich betonen unterschiedliche Organisationen verschiedene soziale Gruppen stärker. So weisen Sozialverbände wie Caritas oder der paritätische Wohlfahrtsverband verstärkt darauf hin, dass Mieter:innen – insbesondere solche mit geringen Einkommen – vor den Kosten der Energiewende geschützt werden müssen und fordern eine stärkere Berücksichtigung ihrer finanziellen Möglichkeiten bei den Förderprogrammen. Interessenverbände der Eigentümer:innen und Immobilienunternehmen legen den Schwerpunkt hingegen auf die langfristige Planbarkeit von Investitionen und das regulatorische Umfeld, wobei auch in den Unternehmens- und Eigentümerverbänden die soziale Verträglichkeit und die Schwierigkeit der Investitionen im sozialen Wohnungswesen durchaus betont werden. In den Debatten wird dabei verschiedenen Akteur:innen vorgeworfen, bestimmte soziale Gruppen nicht ausreichend zu berücksichtigen. Diese Berücksichtigung kann sowohl „faktisch“ im Sinne der Berücksichtigung in Gesetzestexten und/oder in Bezug auf ihre kommunikative Berücksichtigung angemahnt werden.
Um eine Einschätzung jenseits anekdotischer Eindrücke zu vermitteln, erfassen wir diese Gruppenbezüge im vom Zentrum für neue Sozialpolitik geförderten Projekt „The Political Communication of Eco-Social Policies in Germany“ systematisch: In mehreren Gesetzestexten, über 100 Stellungnahmen von Interessengruppen, über 200 Pressemitteilungen der politischen Parteien sowie in der medialen Vermittlung in über 5.000 Artikeln zum Heizungsgesetz in Druck- und Online-Medien. Momentan automatisieren wir die Erfassung dieser Gruppenbezüge durch KI-gestützte Modelle, um bald eine systematische Übersicht zu Gruppenbezügen an der Schnittstelle von Klima- und Sozialpolitik geben zu können. Das Projekt liefert damit wertvolle Erkenntnisse, welche Faktoren auf kommunikativer Ebene die gesellschaftliche Akzeptanz sozial-ökologischer Reformen fördern oder erschweren. Darüber hinaus betrachtet es die Verteilungswirkung der untersuchten klimapolitischen Maßnahmen – denn sozial benachteiligte Gruppen sind bereits jetzt stark von den Folgen des Klimawandels betroffen und auf Entlastungsmaßnahmen angewiesen.
Weiterführende Literatur
Baur, Dominik. 2023. „CSU-Klausurtagung in Andechs: Botschaft vom heiligen Berg“. taz. https://taz.de/CSU-Klausurtagung-in-Andechs/!5945189/.
Casper, Jan Alexander. 2023. „Klimaschutz ist Freiheit“, philosophiert Robert Habeck. WELT. https://www.welt.de/politik/deutschland/plus248798914/Habeck-Klimaschutz-ist-Freiheit-philosophiert-der-Wirtschaftsminister.html.
Haffert, Lukas, Tobias Palmtag und Dominik Schraff. 2024. „When Group Appeals Backfire: Explaining the Asymmetric Effects of Place-Based Appeals“. British Journal of Political Science 54 (4): 1217–1238.
Huber, Lena M. 2022. „Beyond Policy: The Use of Social Group Appeals in Party Communication“. Political Communication 39 (3): 293–310.
Huber, Lena M. und Matthias Haselmayer. 2024. „Promising Links: How Parties Combine Policy Issues with Group Appeals“. West European Politics: 1–28.
Huber, Lena M., Thomas M. Meyer und Markus Wagner. 2024. „Social Group Appeals in Party Rhetoric: Effects on Policy Support and Polarization“. The Journal of Politics 86 (4): 000–000.
SPD. 1998. „Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit. SPD-Programm für die Bundestagswahl 1998“.
Thau, Michael. 2019. „How Political Parties Use Group-Based Appeals: Evidence from Britain 1964–2015“. Political Studies 67 (1): 63–82.
Thau, Michael. 2024. „The Group Appeal Strategy: Beyond the Policy Perspective on Party Electoral Success“.Political Studies 72 (4): 1653–1674.
Autoren

Dr. Leonce Röth
Projekt „Group Appeals – The Political Communication of Eco-Social Policies in Germany"

Dr. Philip Rathgeb
Projekt „Group Appeals – The Political Communication of Eco-Social Policies in Germany"