
Smart Welfare – Wie Algorithmen Sozialpolitik verändern (werden)

Smartphones, Smarthomes, Smartwatches – viele Lebensbereiche sind bereits durch digitale Technologien und Künstliche Intelligenz (KI) “smart” geworden. Warum also nicht auch der Sozialstaat? In der Blogreihe Smart Welfare analysieren wir, wie Digitalisierung und KI den Sozialstaat verändern und welche Chancen und Risiken damit verbunden sind. Dieser erste Beitrag gibt eine Einführung in das Thema in Deutschland sowie internationale Praxiserfahrungen.
Die Digitalisierung des Sozialstaats: Erste Schritte zur Automatisierung
Die Digitalisierung der Verwaltungsstrukturen in Deutschland schreitet voran. Das neueste Beispiel: die Jobcenter-App, die seit Januar 2024 verfügbar ist. 2022 bezogen über 7,2 Millionen in Deutschland eine Form der sozialen Mindestsicherung. Sie ermöglicht es, Anträge zu stellen, Dokumente hochzuladen oder Nachrichten zu senden – ein wichtiger Schritt zur Entlastung von Behörden und zur Verbesserung des Zugangs für die Bürger:innen. Die neue App des Jobcenters ist jedoch nur ein kleiner Teil einer umfassenden Digitalisierungsoffensive. Bereits 2017 wurde mit dem Online-Zugang-Gesetz (OZG) eine rechtliche Grundlage für eine flächendeckende Digitalisierung der Verwaltung geschaffen. Die Umsetzung verlief jedoch schleppend. 2023 erfolgt eine Gesetzesänderung mit dem Ziel, die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern und das sogenannte “Once-Only-Prinzip“ einzuführen. Ein einmal hochgeladenes Dokument soll künftig für alle Behörden zugänglich sein. Trotz dieser Fortschritte ist es noch ein weiter Weg bis zu einer vollständigen Digitalisierung der Verwaltung in Deutschland.
Digitalisierung ist nicht gleich smart
Was das Jobcenter jetzt kann, können andere deutsche Behörden schon seit längerer Zeit. Egal ob Ummeldung, Steuererklärung oder die Zulassung eines neuen Kraftfahrzeuges: viele Anträge können seit Inkrafttreten des OZG bequem von zuhause aus gestellt werden. Auch wenn diese Entwicklungen die Ausgestaltung von (Sozial-)Politik verbessern, von Smart Welfare ist das noch weit entfernt. Die Digitalisierung von Sozialleistungen folgt einem stufenweisen Prozess, der von der Bereitstellung einfacher Informationen bis hin zur vollständigen Integration Künstlicher Intelligenz reicht:
- Informationen: Internetpräsenz, digitaler Zugang zu Informationen der Behörde
- Kommunikation: Digitale Kommunikationswege existieren (E-Mail/Chat), Anträge können digital eingereicht werden
- Transaktion: Soziale Transferleistungen können ohne Medienbruch bezogen werden: Antragstellung, Dokumenteneinreichung, Bezahlung und Bewilligung funktionieren, ohne dass der Kunde postalisch oder per Mail mit dem Amt interagieren muss
- Integration: Künstliche Intelligenz ist voll in die Arbeitsprozesse des Amtes integriert, Entscheidungen werden automatisiert getroffen, ohne dass die Bearbeitung durch einen Menschen nötig ist
Mit der Jobcenter-App befindet sich das Jobcenter auf der zweiten Stufe der Digitalisierung, da für den App-Zugang zunächst ein persönliches Erscheinen im zuständigen Center notwendig ist. Von Smart Welfare spricht man jedoch erst, wenn KI aktiv in Entscheidungsprozesse eingebunden ist – ein Ansatz, der bereits in Schweden praktiziert wird.
Schweden als Vorreiter?
Dass skandinavische Länder generell sehr progressiv mit technischen Innovationen umgehen, ist bekannt. Was aber wenige wissen: Bereits seit 2017 implementierte die beschauliche Hafenstadt Trelleborg eine KI namens “Ernst”, die Sozialhilfeanträge bearbeitet. Die Software gleicht Einkommensdaten mit Steuererklärungen und anderen Informationen ab und entscheidet innerhalb weniger Minuten über Verlängerungen oder Aussetzungen von Sozialleistungen. Diese Automatisierung hat die Bearbeitungszeit von Anträgen in Trelleborg erheblich reduziert und die Verwaltung entlastet. Auch die schwedische Sozialverwaltung Försäkringskassan setzt auf ähnliche KI-gestützte Prozesse.
Ein solcher Einsatz von KI ist allerdings umstritten. Wenn existentielle Entscheidungen nicht von Menschen getroffen werden, sondern von Algorithmen, wirft das ganz grundsätzliche Vertrauensfragen zwischen Menschen und Staat auf. So kritisierte beispielsweise die Menschenrechtsorganisation Amnesty International im Jahr 2024, dass die schwedische KI besonders häufig Frauen mit Migrationshintergrund und Personen ohne Hochschulabschluss ins Visier nehme, wenn es um die Identifikation potenzieller Sozialbetrugsfälle gehe. Die Regierung verteidigt das System, lehnt jedoch eine Offenlegung des Algorithmus aus Sicherheitsgründen ab. Dieses Beispiel zeigt, dass die Einführung von Smart Welfare nicht nur technische, sondern auch ethische und rechtliche Herausforderungen mit sich bringt.
Eine Dekade der Automatisierung
Während in Schweden bereits über die Folgen von KI im Sozialstaat diskutiert wird, steckt Deutschland noch in den digitalen Kinderschuhen. Die Bundesagentur für Arbeit, allen voran ihre Vorsitzende Andrea Nahles, will das nun zügig ändern: Im Sommer 2024 hat sie die “Dekade der Automatisierung” ausgerufen und angekündigt, die Behörde zum “modernsten digitalen Dienstleister” in Europa zu transformieren. Ein entscheidender Faktor ist dabei die demographische Entwicklung: Bis 2032 gehen 35% der Beschäftigten der Bundesagentur für Arbeit in Rente. Automatisierung ist daher nicht nur ein Fortschritt, sondern eine Notwendigkeit.
Um diesem Wandel proaktiv zu begegnen, hat die Bundesagentur für Arbeit im Oktober 2024 eine 19 Millionen Euro schwere Kooperation mit dem deutschen KI-Unternehmen Aleph Alpha angekündigt. Vom Verfassen von Bescheiden über die Genehmigung von Anträgen bis hin zur Unterstützung in Beratungsgesprächen: das Unternehmen soll zahlreiche Prozesse im Amt automatisieren und die KI zu einem Schlüsselelement der behördlichen Strukturen machen. Dabei ist der Behörde bewusst, dass eine KI die persönliche Interaktion zwischen Menschen nicht ersetzen kann. Im Gegenteil. Durch den Effizienzgewinn soll sich das Personal wieder auf die Beratung als Kerngeschäft der Behörde konzentrieren können.
Alte Regeln in einer neuen Welt
Die große Digitalisierungs- und Automatisierungsoffensive stößt in Deutschland aber auf strukturelle Hürden. Die Regelwerke unseres Sozialstaats stammen aus einer alten Welt und sind teilweise ungeeignet, um einen KI-Einsatz zuzulassen. Eine solche „alte” Regel ist zum Beispiel das Vier-Augen-Prinzip, das bei vielen wichtigen Vorgängen gilt. Laut eigener Aussage der Behörde könnten über 70% der Anträge automatisch bearbeitet werden, ohne dass es menschlicher Sachbearbeiter:innen bedarf – wenn nicht das Vier-Augen-Prinzip eingehalten werden müsste. Um das Problem zu lösen, hat das Arbeitsamt bereits vor Monaten eine Ausnahmegenehmigung beim Finanzamt beantragt. Die Entscheidung steht immer noch aus.
Dass die alten Regeln nicht für die neue Welt gemacht worden sind, deckt sich auch mit den Handlungsempfehlungen namhafter Institute und Thinktanks, wie Agora Digitale Transformation (Theißing & Andersen 2024). Bevor ein Smart Welfare System in Deutschland etabliert werden kann, bedarf es einer generellen Strukturreform unseres Sozialstaats. Oftmals müssen sich Bürger:innen und Mitarbeitende in einem dichten Labyrinth sozialstaatlicher Leistungen von verschiedenen Behörden zurechtfinden. Ein alleinerziehender und arbeitssuchender Vater mit einer pflegebedürftigen Mutter hat beispielsweise Anspruch auf zwölf Sozialleistungen von insgesamt acht verschiedenen Behörden (Theißing & Andersen 2024). Um eine effiziente Nutzung von KI zu ermöglichen, müssen also erst sozialstaatliche Leistungen gebündelt und die Strukturen schlanker gemacht werden. Ein zentraler Schritt hin zu Smart Welfare wäre ein Ausbau zwischenbehördlicher Kommunikation durch die Schaffung eines zentralen Datenspeichers. Dadurch würde vor allem die Bearbeitungszeit, die sich aus der Nachweispflicht der Kund:innen ergibt, drastisch verkürzt werden.
Chancen und Risiken eines digitalen Sozialstaats
Die Digitalisierung könnte das Verhältnis zwischen Bürger:innen und Staat fundamental verändern. Statt auf Anträge zu warten, könnte eine KI automatisch erfassen, wer Anspruch auf Sozialleistungen hat – und diese eigenständig zuweisen. Der Sozialstaat würde auf die Bürger:innen zugehen, nicht umgekehrt.Dadurch könnte auch das Problem der Nichtinanspruchnahme gelöst werden, dass gerade bei neueren Maßnahmen wie dem Wohngeld gravierend ist. Schätzungen zufolge beantragen bis zu 75% der Berechtigten kein Wohngeld (Wulfers 2024). KI kann auch dafür sorgen, dass der Sozialstaat präventiv statt reaktiv agiert. Ein Algorithmus könnte zum Beispiel eine Risikoanalyse erstellen, um drohende Obdachlosigkeit oder Altersarmut frühzeitig zu erkennen und entsprechende Maßnahmen einzuleiten.
Bei allen Vorteilen: Smart Welfare birgt auch erhebliche Risiken. Eine der größten Herausforderungen besteht in der Erhebung, Nutzung sowie dem Schutz von sensiblen Daten. Gerade wenn eine zentrale Datenspeicherung gebaut wird, muss die Bundesregierung die dort liegenden Daten vor dem Eingriff Dritter ausreichend schützen. Des Weiteren sollten die Behörden einen reflektierten Umgang mit KI anstreben. Auch Algorithmen treffen ihre Entscheidungen nicht immer auf Grundlage objektiver Analysen, wie das Beispiel aus Schweden verdeutlicht.
Eine letzte Grundvoraussetzung für Smart Welfare ist ein flächendeckender Zugang zum Internet und den entsprechenden Geräten. Gerade hier sind vulnerable Gruppen besonders betroffen. Bürgergeldempfänger:innen besitzen weniger häufig ein Smartphone oder einen Computer, mit denen sie sozialstaatliche Dienste beanspruchen könnten. Bei den über 60-Jährigen besteht oftmals kein vollfertiger Internetzugang. Der Digital Gap birgt also das Risiko, den Social Gap weiter zu vergrößern.
Ohne Reformbereitschaft wird es nicht gehen
Smart Welfare ist keine Sci-Fi-Vision, sondern eine natürliche und notwendige Entwicklung. Damit Deutschland die Chancen neuer Technologien nutzen kann, sind allerdings tiefgreifende strukturelle und rechtliche Reformen nötig. Die Einführung von KI im Sozialstaat muss effizient, gerecht und transparent erfolgen – nur so kann sie das Vertrauen der Bürger:innen gewinnen und uns als Gesellschaft voranbringen.
Chancen und Risiken von Smart Welfare
Chancen
- Reduzierung der Bearbeitungszeit von Anträgen
- Entlastung des Personals in den Sozialämtern
- Mehr Kapazitäten für die individuelle Beratung
- Präventive Sozialstaatsmaßnahmen durch Frühwarnsysteme
- Bessere Erreichbarkeit von Bedürftigen
Risiken
- Potentielle Perpetuierung von Stereotypen und Stigmatisierung
- Falscher Glauben an eine vermeintliche Objektivität
- Ausweitung sozialer Ungleichheiten durch fehlende Internetzugänge
- Datensicherheit: Wie wird mit sensiblen Daten umgegangen?
Nachweise
Literatur
Florian Theißing & Jan Snoor Andersen. Den digitalen Sozialstaat nutzendenorientiert gestalten. Agora Digitale Transformationen, Berlin, 2024.
Alexander Wulfers. So können nicht nur Arme Wohngeld beantragen. FAZ, 10.08.2024. https://www.faz.net/aktuell/finanzen/wohngeld-so-koennen-es-nicht-nur-arme-beantragen-19910985.html
