Armut geht uns alle an
Mit ihrem neuen Buch „Armut hat System“ liefert die Tafel-Geschäftsführerin Sirkka Jendis einen wichtigen Debattenbeitrag zu einer der drängendsten Herausforderungen unserer Zeit und einen eindringlichen Appell für eine soziale Zeitenwende.
Sirkka Jendis, Geschäftsführerin der Tafel Deutschland, fordert in ihrem neuen Buch „Armut hat System“ eine soziale Zeitenwende. In einer fundierten und zugleich empathischen Analyse nähert sie sich dem Thema sozialer Ungleichheit und den zugrundeliegenden Ursachen und Folgen nicht nur theoretisch, sondern auch anhand persönlicher Erfahrungen und Begegnungen aus ihrem beruflichen Alltag.
Populistische Debatten und politische Versäumnisse
Jendis beschreibt, was Armut bedeutet, und welche Vorstellungen gesellschaftlich über das Phänomen verbreitet sind. Sie stellt fest: Wie wir über Armut denken, ist derzeit Teil des Problems. Denn Armut werde in unserer Gesellschaft einerseits normalisiert, andererseits würden in der öffentlichen Verhandlung häufig emotionalisierende Narrative verwendet. Ob Debatten über Hartz IV und Bürgergeld, das Ausspielen von Arbeitslosen gegen Geringverdienende oder die Individualisierung von Verantwortung und Schuld bei Armutsbetroffenheit – Jendis zeigt gängige populistische Narrative auf und stellt ihnen eine differenzierte und faktenbasierte Betrachtung gegenüber.
Neben gesellschaftlichen Missständen konstatiert Jendis auch der Politik Versäumnisse in der Armutsbekämpfung und -verhinderung. Diese sieht sie beispielsweise in einer restriktiven Ausgestaltung der Systeme sozialer Sicherung, einer unzureichenden Rentenpolitik sowie einem Bildungssystem, welches aktuell nicht für mehr, sondern für weniger Chancengerechtigkeit sorgt. Sie betont dabei, dass Tafeln nicht zur staatlichen Versorgungseinrichtung gehören, eine Entlastung des Sozialstaats also nicht Aufgabe der mittlerweile über 970 Tafeln sei.
Von der Symptombekämpfung zur Armutsvermeidung
Der Vielschichtigkeit des Problems zum Trotz verliert sie jedoch nicht die Hoffnung: Jendis‘ Buch ist geprägt von einer Zuversicht, dass es auch anders sein könnte. Zu jeder differenzierten Problemanalyse der drängendsten armutsbezogenen Fragen liefert die Autorin politische und gesellschaftliche Lösungsstrategien und Handlungsoptionen.
„Armut ist so komplex und vielfältig in ihren Ursachen, Einflussfaktoren und Auswirkungen, dass es mit einer kleinen Reform hier und einer Anpassung dort nicht getan sein wird. Wir müssen das große Bild zeichnen, um zu den Wurzeln des Problems zu gelangen.“
Von der Politik fordert sie ein wirksames Handeln ein, das weg von der reinen Symptombekämpfung und hin zu einer wirksamen Armutsvermeidung gelangt. Einen wichtigen Hebel sieht sie in der Ausgestaltung eines Sozialstaats, der eine menschenwürdige und soziale Absicherung ohne Stigmatisierung garantiert. Außerdem plädiert sie für ein Lohnniveau, welches verhindert, dass Menschen trotz Arbeit armutsbedroht und auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. In einer Umverteilung von Reichtum, beispielsweise durch eine Vermögenssteuer, und einer sinnvollen, sozialen Investition der Einnahmen, sieht sie eine Möglichkeit, das Vertrauen in staatliche Institutionen zurückzugewinnen.
Armut als kollektive statt individuelle Verantwortung
Jendis appelliert an ein Menschenbild, welches Empathie und den Befähigungscharakter sozialpolitischer Maßnahmen in den Vordergrund rückt und dabei auf kollektive statt auf individuelle Verantwortung baut. Mit vielen der Themen, die sie in ihrem Buch behandelt, komme ich auch in meiner Arbeit beim Zentrum für Sozialpolitik in Kontakt: Von Chancengerechtigkeit und Befähigung, über die Relevanz politischer Teilhabe bis hin zu Bürokratieabbau. Ein verantwortungsvoller Sozialstaat sollte Menschen dazu befähigen, ihr Potenzial auszuschöpfen und sozialstaatliche Institutionen so ausgestalten, dass Menschen diesen Befähigungscharakter erfahren können, damit das Vertrauensklima gestärkt wird: Denn Sozialpolitik ist auch Demokratiepolitik.
„Armut und Ungleichheit wirken nicht nur auf der individuellen Ebene von der Geburt bis in den Tod benachteiligend, sie haben auch eine destabilisierende Wirkung auf unsere Gesellschaft und unsere Demokratie. Der für den gesellschaftlichen Zusammenhalt benötigte Ausgleich für benachteiligte Bevölkerungsgruppen liegt daher im Interesse aller.“
Neben den von ihr beschriebenen sozialpolitischen Maßnahmen, die Armut verhindern, sollte auch die Relevanz der politischen Kommunikation dieser Maßnahmen nicht unterschätzt werden: Denn ohne gesellschaftliche Akzeptanz lassen sich sozialpolitische oder auch sozial-ökologische Maßnahmen wie das Klimageld nicht nachhaltig demokratisch etablieren.
Sirkka Jendis hat einen empathischen und klugen Beitrag zur Debatte um Armut und soziale Ungleichheit geliefert. Sie nimmt Zivilgesellschaft und politische Entscheidungsträger:innen in die Verantwortung, einem der drängendsten gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit entgegenzutreten. Und ich kann ihr nur zustimmen: Armut geht uns alle an.
Die wichtigsten Punkte aus dem Buch
- Das Hauptmerkmal von Armut in Deutschland ist die soziokulturelle Ausgrenzung
- In Deutschland gelten derzeit 16,9% der Bevölkerung als armutsgefährdet
- Armut geht uns alle an, aber betrifft uns unterschiedlich: Risikogruppen sind Kinder & Jugendliche, alte Menschen sowie Menschen mit Migrationsgeschichte
- Die Bewertung der Verantwortung für Armutsbetroffenheit hängt eng mit unserem Menschenbild zusammen
- Debatten über Armut sind häufig populistisch und emotionalisierend geführt
- Soziale Ausgrenzung und Verhinderung der politischen Teilhabe als Folge von Armut sind demokratiegefährdend