
Eine Kampagne des Zentrums für neue Sozialpolitik

Soziale Herkunft entscheidet in Deutschland maßgeblich über die individuelle Zukunft. Ohne gute Bildung, realistische Aufstiegsmöglichkeiten und soziale Teilhabe verlieren immer mehr Menschen den Glauben an das System. Die Politik muss jetzt handeln und das Versprechen sozialer Mobilität erneuern – für eine Gesellschaft, die allen eine faire Chance bietet.
Chancen & Fakten
Wenige Wege führen nach oben.
Die Überzeugung, dass sich Aufstieg allein durch harte Arbeit verwirklichen lässt, war lange ein zentraler Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft. Die Zahlen sprechen jedoch eine andere Sprache: So bräuchten Kinder aus den ärmsten Familien in Deutschland laut OECD im Schnitt sechs Generationen, um ein durchschnittliches Einkommen zu erlangen.¹ Zum Vergleich: in Schweden, Dänemark und Finnland bräuchte ein Kind für den gleichen Aufstieg nur die Hälfte der Zeit, nämlich drei Generationen. Diese mangelnde soziale Mobilität wird in der Bevölkerung durchaus wahrgenommen. Im Schnitt gehen die Deutschen davon aus, dass nur 7,7 % der Kinder, deren Eltern zum untersten Fünftel der Einkommen zählen, den Aufstieg ins obere Fünftel schaffen werden, während 63,3 % in der Sicht der Befragten in den unteren zwei Einkommensfünfteln verbleiben werden.² Damit ist der Glaube an den sozialen Aufstieg in Deutschland niedriger als in anderen europäischen Staaten oder den USA.³
Dabei sein ist alle.
Die Chance auf Teilhabe ist in Deutschland stark durch die sozio-ökonomische Stellung bestimmt. Aktuell reicht das Einkommen bei jedem dritten Singlehaushalt in Deutschland nicht aus, um ein angemessenes Minimum an Lebensqualität zu gewährleisten. Das hat eine Übersetzung des britischen Minimum Income Standards (MIS) im Rahmen unseres Projekts "Lebensqualitätsminimum" mit dem Dezernat Zukunft ergeben.⁴ Auch wenn die zugrundeliegende Methodik des MIS und ihre Übersetzung nicht frei von Problemen sind: Die Ergebnisse vermitteln eine erste Ahnung, wie viel Menschen wirklich brauchen, um gesellschaftlich teilhaben zu können. Teilhabe ist schließlich nicht nur eine Frage des Überlebens, sondern auch der aktiven Beteiligung am sozialen Ganzen. Gesellschaftlich drückt sie sich zum Beispiel in Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und des Medienkonsums aus, die ärmeren Menschen oft verwehrt bleiben. Auch politisch gibt es Beteiligungsdefizite: 1990 hatten noch 20% aller Bundestagsabgeordneten einen Haupt- oder Realschulabschluss. Heute sind es nur noch 6,5%.⁵
Anfang gut, alles gut.
Die Verhältnisse, in denen Kinder aufwachsen, haben großen Einfluss darauf, welche Türen ihnen im Leben offenstehen. Kinder aus sozial benachteiligten Familien haben laut OECD erheblich schlechtere Chancen, sich auf dem Bildungs- und Arbeitsmarkt durchzusetzen: In Familien mit geringen Einkommen hineingeboren zu werden, führt häufig zu einem Leben mit niedrigen eigenen Einkommen.¹ Wer sich in Deutschland hingegen im obersten Fünftel der Einkommensverteilung befindet, verweilt dort in der Regel auch über längere Zeiträume. Die sozialen Unterschiede beginnen dabei bereits im Bildungssystem: Kinder aus der obersten Einkommensschicht absolvieren in Deutschland mit ca. 50% höherer Wahrscheinlichkeit das Abitur als Kinder aus den untersten Einkommensschichten.⁶ Ähnliche Muster zeigen sich entsprechend auch bei höheren Bildungsabschlüssen. Der Startvorteil macht also oft den Unterschied: Wer am Anfang gut dasteht, hat gute Chancen auf ein besseres Leben.
Faire Chancen für alle – ein neues Gesellschaftsversprechen für Deutschland
Die soziale Ungleichheit in Deutschland hat eine Grenze erreicht, die unsere demokratische, gesellschaftliche und ökonomische Stabilität gefährdet. Was wir jetzt benötigen, ist ein neuer Plan für die Zukunft, der allen Menschen faire Chancen bietet und das Aufstiegsversprechen erneuert. Die nächste Bundesregierung muss dies zur Maxime ihres Handelns machen.
Ob ein Mensch über sein Leben selbst bestimmen kann, hängt immer stärker von seiner sozialen Herkunft ab. Während einige mit finanziellen Rücklagen, einem wertvollen Netzwerk und erstklassiger Bildung starten, kämpfen andere mit prekärer Beschäftigung, vererbter Armut, steigenden Mieten und einem Schulsystem, das mehr aussortiert als fördert. Die Bevölkerung spürt diesen Druck längst. Wer keine fairen Chancen für sich erkennt, verliert den Glauben an Politik und Institutionen.⁷ Die Folge ist nicht nur individuelle Perspektivlosigkeit, sondern eine wachsende gesellschaftliche Spaltung, die das Fundament unserer Demokratie und Wirtschaft bedroht.
Leistung lohnt sich – ein Versprechen von gestern?
Über Jahrzehnte hinweg beruhte der gesellschaftliche Konsens in Deutschland auf der Idee, dass sozialer Aufstieg durch Initiative und Anstrengung möglich ist. Die soziale Marktwirtschaft – DIE große Errungenschaft der Nachkriegszeit – schuf eine breite Mittelschicht, bot Sicherheit und versprach eine bessere Zukunft für jedermann. Doch dieses Versprechen verliert an Glaubwürdigkeit.
Trotz Bildungsexpansion und besseren Berufschancen hängt der Erfolg eines Menschen stärker denn je von seinem Elternhaus ab. In kaum einem anderen europäischen Land entscheidet die soziale Herkunft so sehr über den Bildungserfolg wie in Deutschland. Wer in einer wohlhabenden Familie aufwächst, profitiert von besseren Schulen⁸, teurer Nachhilfe⁹ und Netzwerken, die den Weg in gut bezahlte Berufe ebnen. Wer diesen Hintergrund nicht hat, muss von klein auf Hürden überwinden – und selbst dann reicht es oft nicht. Dieser Umstand ist für die jeweilige Person ein Problem und gleichzeitig ein großer Verlust für die gesamte Gesellschaft, die auf das Potenzial dieser Menschen verzichtet.
Auch der Arbeitsmarkt hat sich verändert. Während Unternehmen händeringend nach Fachkräften suchen und viele Branchen sichere Jobs bieten, reicht der Mindestlohn oft nicht aus, um ein angemessenes Leben zu führen. Arbeitsbedingungen haben sich kaum verbessert, gerade in Berufen, die während der Pandemie als „systemrelevant“ gefeiert wurden.10 Applaus hat keinen Wohlstand geschaffen. Die Lücke zwischen hochqualifizierten Beschäftigten mit steigenden Einkommen und jenen, die trotz harter Arbeit kaum über die Runden kommen, wächst weiter.
Gleichzeitig konzentriert sich das Vermögen in Deutschland in immer weniger Händen. Die obersten 10 Prozent der Bevölkerung besitzen rund 60 Prozent des Nettovermögens, während die untere Hälfte nur einen Bruchteil oder praktisch nichts hat.11 Eigene Rücklagen bilden eine tragende Säule für ein selbstbestimmtes Leben. Diese ermöglichen die Investition in sich und andere und schaffen die Möglichkeit, sich aus Abhängigkeiten und Armutsfallen zu lösen.
All das führt zu einer wachsenden Unsicherheit, die längst nicht mehr nur die wirtschaftlich Schwächsten betrifft. Auch die Mittelschicht spürt, dass die Mechanismen des sozialen Aufstiegs nicht mehr wie früher funktionieren.12
Ohne faire Chancen verliert die gesamte Gesellschaft
Eine Gesellschaft, die große Teile ihrer Bevölkerung dauerhaft unter ihrem Potenzial hält, verliert langfristig an Innovationskraft und Dynamik. Ohne sozialen Aufstieg bleiben Talente ungenutzt, Kreativität geht verloren, wirtschaftliche Stabilität wird ausgebremst. Wer sich unfair behandelt fühlt, zieht sich zurück – oder wendet sich radikalen Kräften zu. Die Symptome dieser Entwicklung sind längst sichtbar: sinkendes Vertrauen in die Demokratie, zunehmende gesellschaftliche Polarisierung, ein Land, in dem Gruppen mit völlig unterschiedlichen Lebensrealitäten kaum noch einen gemeinsamen Nenner finden.
Wenn die Politik diesen Kurs nicht korrigiert, werden sich diese Entwicklungen weiter verschärfen. Ein Land, das sich als leistungsfähig und gerecht versteht, kann es sich nicht leisten, dass Erfolgschancen zunehmend von Faktoren abhängen, die Menschen nicht beeinflussen können.
Die Politik muss Menschen wieder in die Selbstwirksamkeit bringen
Deutschland braucht einen neuen Gesellschaftsvertrag, der nicht nur auf kurzfristige Entlastungen setzt, sondern vor allem strukturelle Barrieren abbaut. Statt bloßer Symptombehandlung braucht es eine Politik, die die Grundlagen für sozialen Aufstieg neu definiert.
Jedes Kind muss die gleiche Chance auf gute Bildung haben – egal, ob es in einem wohlhabenden Viertel oder einer benachteiligten Region aufwächst. Das Bildungssystem darf nicht so früh über die Zukunftsaussichten eines Menschen entscheiden. Es muss durchlässiger werden, damit nicht eine Weichenstellung in jungen Jahren den gesamten Berufs- und Lebensweg vorbestimmt.
Arbeit muss sich lohnen – und zwar langfristig. Wer sich weiterbildet, darf nicht Gefahr laufen, durch Bürokratie oder kurzfristige finanzielle Nachteile ausgebremst zu werden. Die Politik sollte Anreize schaffen, die echten Fortschritt ermöglichen: Qualifizierung statt Stillstand, Eigenverantwortung statt Ohnmacht.
Der Sozialstaat sollte Menschen nicht nur absichern, sondern sie in die Lage versetzen, ihre Lebenssituation nachhaltig zu verbessern. Gleichzeitig muss wirtschaftliche Teilhabe breiter gefasst werden. Wer über kein geerbtes Vermögen verfügt, darf nicht dauerhaft ökonomisch benachteiligt bleiben. Wohneigentum und Vermögensbildung müssen wieder erreichbar werden, damit nicht nur eine kleine Elite langfristig von wirtschaftlichem Wachstum profitiert.
2025: Eine Richtungsentscheidung für den sozialen Zusammenhalt
Das Handeln der kommenden Bundesregierung wird über die Zukunft dieses Landes entscheiden. Bleibt Deutschland ein Land, das sozialen Aufstieg ermöglichen will – oder verfestigt sich eine Gesellschaft, in der Wohlstand und Perspektiven ungleich verteilt sind?
Wenn dieses Land wirtschaftlich stark, demokratisch stabil und gesellschaftlich verbunden bleiben will, dann muss es sich der sozialen Frage endlich stellen. Und das Aufstiegsversprechen in den Mittelpunkt politischen Handelns rücken.
Publikationen
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Ungleiche Chancen, geringes Vertrauen
In Deutschland entscheidet oft die Herkunft über die Zukunft. Der soziale Aufstieg scheint für viele kaum noch erreichbar, und das Vertrauen in die Politik ist erschreckend gering. Unsere aktuelle Untersuchung zeigt: Ein Großteil der Bevölkerung wünscht sich einen Sozialstaat, der echte Chancen schafft und Ungleichheiten abbaut. Doch ohne grundlegende Reformen droht das Leistungsversprechen der sozialen Marktwirtschaft zur Illusion zu werden.
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Lebensqualitätsminimum in Deutschland
Was brauchen Menschen finanziell, damit sie angemessen leben können? Diese Frage versucht der Minimum Income Standard (MIS) in Großbritannien zu beantworten: In von Expert:innen unterstützten Fokusgruppen wird ein fiktiver Warenkorb mit Gütern und Leistungen erstellt, dessen Wert anschließend beziffert wird. So ergibt sich ein Budget für ein auskömmliches Leben. Für Deutschland fehlt es bislang an vergleichbaren Zahlen. Das will das Projekt Lebensqualitätsminimum ändern.
WeiterlesenQuellenverzeichnis
[1] OECD. 2018. „A Broken Social Elevator? How to Promote Social Mobility“. Paris: OECD Publishing.
[2] Bellani, Luna, Nona Bledow, Marius R. Busemeyer und Guido Schwerdt. 2021. „Perception of Inequality and Social Mobility in Germany: evidence from the Inequality Barometer“. Working Paper Series of the Cluster of Excellence “The Politics of Inequality”, Nr. 3, 1–21.
[3] Alesina, Alberto, Stefanie Stantcheva und Edoardo Teso. 2018. „Intergenerational Mobility and Preferences for Redistribution“. American Economic Review 108 (2): 521–54. https://doi.org/10.1257/aer.20162015.
[4] Fischer, Torben, Moritz Rüppel, Maike Wittmann, Levi Henze und Janek Steitz. 2025. „Lebensqualitätsminimum in Deutschland: Einblicke in Konzeption und Pilotstudie“. Berlin: Zentrum für neue Sozialpolitik.
[5] Feldkamp, Michael F. 2023. „3.9 Schul- und Hochschulbildung“. In Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages, Onlineausgabe. Berlin: Deutscher Bundestag.
[6] Dodin, Majed, Sebastian Findeisen, Lukas Henkel, Dominik Sachs, und Paul Schüle. 2024. „Social mobility in Germany“. Journal of Public Economics 232. https://doi.org/10.1016/j.jpubeco.2024.105074.
[7] Bertelsmann Stiftung. 2019. Schwindendes Vertrauen in Politik und Parteien – Eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt? Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, S. 7. Verfügbar unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Gesellschaftlicher_Zusammenhalt/ST-LW_Studie_Schwindendes_Vertrauen_in_Politik_und_Parteien_2019.pdf
[8] Hans-Böckler-Stiftung. 2020. Private Nachhilfe: Inanspruchnahme, Wirkung und soziale Ungleichheit. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung. Verfügbar unter: https://www.boeckler.de/pdf/p_study_hbs_348.pdf
[9] Beierle, S., Hoch, C. und Reißig, B. 2019. Schulen in benachteiligten sozialen Lagen: Untersuchung zum aktuellen Forschungsstand mit Praxisbeispielen. Halle: Deutsches Jugendinstitut. Verfügbar unter: https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs2019/28019_DJI_Schulen_in_benachteiligten_sozialen_Lagen.pdf
[10] AOK. 2023. Negativ-Rekord: Ambulante Pflegekräfte fallen durchschnittlich 32 Tage im Jahr in ihrem Job aus. Verfügbar unter: https://www.aok.de/pp/rh/pm/negativ-rekord-ambulante-pflegekraefte-fallen-durchschnittlich-32-tage-im-jahr-in-ihrem-job-aus/#
[11] Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz. 2024. Vermögensungleichheit in Deutschland und Europa: Neue Daten der EZB. Berlin: Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz. Verfügbar unter: https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Schlaglichter-der-Wirtschaftspolitik/2024/03/05-vermoegensungleichheit-in-deutschland-und-europa.html.
[12] In einer von uns durchgeführten Umfrage stimmte auch unter denjenigen mit monatlichen Nettoeinkommen zwischen 2000 und 4000 Euro eine Mehrheit zu, dass zu wenigen Menschen der soziale Aufstieg ermöglicht wird.

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