
Auf der Rolltreppe Richtung Demokratiemisstrauen

Eine sozialpolitische Beobachtung
Was passiert, wenn sich Immobilität im sozialen Aufstieg verfestigt und Mobilität im sozialen Abstieg verstetigt? Und warum kann man die Gesellschaft eigentlich mit einem Kaufhaus vergleichen? Dieser Impuls analysiert demokratische Spannungsfelder im Kontext sozialer Ungleichheit, zeigt empirisch fundiert Repräsentationslücken auf und plädiert für einen Sozialstaat, der nicht nur auffängt sondern befähigt.
Die Gesellschaft als Kaufhaus
Stellen Sie sich die deutsche Gesellschaft als ein Kaufhaus vor. Sie starten je nach Ihrer sozialen Herkunft in einem Unter-, Erd- oder Obergeschoss. Wie auch immer: Sie wollen nach oben. Nun gibt es verschiedene Fortbewegungsmöglichkeiten, die Sie bei Ihrem Vorhaben unterstützen können: Eine Rolltreppe, ein Fahrstuhl, viele Treppen, womöglich etwas ganz anderes.
Viele Wege führen nach oben, aber welchen Einfluss hat die Mobilitätsform – macht sie einen Unterschied? Wie schätzt die Soziologie die Fortbewegungsmittel im gesellschaftlichen Kaufhaus ein? Was passiert mit unserer Demokratie, wenn die Alternativen ausgehen?
Von der Rolltreppe zum Fahrstuhl
Der deutsche Soziologe Ulrich Beck skizzierte 1986 in seinem populärsten Werk „Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne“ den gesellschaftlichen „Fahrstuhleffekt“, der sich ursächlich auf das Wirtschaftswachstum seit den Fünfziger-Jahren zurückführen ließ. Demnach befindet sich die gesamte Gesellschaft in einem stetig aufwärts steigenden Fahrstuhl: Zwar bestehen auch weiterhin ressourcenspezifische Ungleichheiten (z.B. in den Bereichen Finanzen, Bildung, Soziales), jedoch profitieren alle Bevölkerungsschichten von einer Erhöhung des materiellen Wohlstands, verbesserten Bildungschancen und einem Zugewinn an Freizeit. Parallel zu der gesamtgesellschaftlichen Wohlstandsexpansion fand laut Becks Individualisierungstheorem ein Prozess der „Freisetzung“ aus traditionellen, kollektiven Bindungen statt, der auch den Umgang mit Krisen von der familiären oder gesellschaftlichen auf die individuelle Ebene verlagerte (Beck 1986).
In „Die Abstiegsgesellschaft – Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne“ argumentiert der Soziologe Oliver Nachtwey wiederum, dass durch die Rückgänge von Wirtschaftswachstum und Normalarbeitsverhältnissen sowie der Entkollektivierung des Sozialstaats das Zeitalter der regressiven Moderne eingeläutet wurde. Dieses steht in Abgrenzung zur von Ulrich Beck geprägten „sozialen Moderne“. Durch die Liberalisierung von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen und Leiharbeit wurde in den 00er-Jahren aus der Fahrstuhl- endgültig eine Rolltreppen-Gesellschaft.
Einige Individuen und ganze Gesellschaftsmilieus hatten es im Zeitalter der sozialen Moderne demnach auf die höchste Etage geschafft, für alle anderen drehte sich die Fahrtrichtung der Rolltreppe nun um. Sie mussten fortan entgegen der nach unten fahrenden Rolltreppe laufen, um zumindest ihren bisher erreichten sozioökonomischen Status beizubehalten. Dadurch entstand eine Gesellschaft des sozialen Abstiegs, in der aus institutionalisierter Sicherheit institutionalisierte Prekarität wurde (Nachtwey 2016). Die daraus erwachsenen strukturellen und gesamtgesellschaftlichen Problemlagen wie Armutsfestigkeit oder sozialer Abstieg wurden entsprechend dem Individualisierungstheorem gemeinhin als individuelle Fehlleistung bzw. Versagen wahrgenommen (ebd. 2016).
In einer Situation von einer inzwischen dreijährigen Rezession, andauernder sozialer (Im-)Mobilität und innen- sowie außenpolitischen Unsicherheiten birgt der Individualismus als gesellschaftlicher Imperativ mehr Gefahren denn je. Zwar teilen die Milieus der unteren und mittleren Einkommensschichten das gleiche Schicksal, indem sie entgegen der nach unten fahrenden Rolltreppe rennen – doch alle laufen für sich allein. Diese Dissonanz führt zu Unzufriedenheit, welche im Lichte struktureller Herausforderungen potenziell auf politische Entscheidungsträger:innen und teilweise auch demokratische Institutionen abfärbt. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden verschiedene demokratische Spannungsfelder analysiert und einkommensspezifische Unterschiede evaluiert.
Spannungsfeld 1: Unzufriedenheit mit demokratischer Praxis
Menschen halten die Umsetzung der Demokratie in Deutschland für ausbaufähig. Verschiedene Studien haben bereits wichtige Beiträge zur Korrelation zwischen politischer Partizipation und Einkommensstärke (Bödecker 2012) sowie dem nachlassenden Legitimitätsglauben gegenüber demokratischen Säulen innerhalb der deutschen Bevölkerung geliefert (Kneip et al. 2020). Auch die aktuellen ALLBUS-Daten zeigen: Während die Deutschen durch alle Einkommensschichten hinweg die Demokratie als Idee mit überragender Mehrheit als (sehr) positiv bewerten, ergibt sich bei der Bewertung der deutschen Umsetzung eine einkommensspezifische Differenz von 14,4%-Punkten. So gaben 19,1% der Befragten mit hohem verfügbarem Einkommen und 33,5% der Befragten mit niedrigem verfügbarem Einkommen an, damit (sehr) unzufrieden zu sein. Der Zusammenhang zwischen Politikverdrossenheit und der subjektiven Unzufriedenheit mit der eigenen wirtschaftlichen Lage (Huth 2004) ist im wissenschaftlichen Diskurs ebenso von Relevanz.
Spannungsfeld 2: Sinkendes Vertrauen in Parteien und Institutionen
Menschen vertrauen ihren Parteien und Institutionen nicht (mehr). Wissenschaftliche Beiträge verweisen in diesem Zusammenhang zum einen auf einkommensspezifische Unterschiede im Vertrauen in das politische System (Brülle und Spannagel 2023), zum anderen auf den negativen Effekt von Armut auf die gesellschaftliche Teilhabe und das Vertrauen in politische Akteur:innen (Spannagel und Zucco 2022). Die ALLBUS-Daten zeigen eine doppelte Diskrepanz: Während auf einer Skala von 1 (gar kein Vertrauen) bis 7 (großes Vertrauen) Punkten 41,7% der Befragten dem Bundestag fünf Punkte gaben und den politischen Parteien 19,8%, tritt eine gravierende einkommensspezifische Differenz hervor. Befragte mit einem hohen verfügbaren Einkommen sprachen zu 61,8% dem Bundestag und zu 37,5% den politischen Parteien ihr Vertrauen aus. Von den Befragten mit einem niedrigen verfügbaren Einkommen waren es nur 35,3% (-26,5%-Punkte) bzw. 18,8% (-18,7%-Punkte).
Spannungsfeld 3: Fehlendes Gefühl der Repräsentation
Menschen in Deutschland fühlen sich nicht repräsentiert. Es besteht ein Zusammenhang zwischen der subjektiven Einschätzung marginalisierter und stigmatisierter Gruppen, nicht repräsentiert zu werden und der tatsächlichen Repräsentation bürgerlicher Interessen. Insgesamt lässt sich ein sinkender Legitimitätsglaube gegenüber repräsentierenden Akteur:innen erkennen (Kneip et al. 2020). Die Aussage „Die Politiker bemühen sich im Allgemeinen darum, die Interessen der Bevölkerung zu vertreten“ lehnten ALLBUS-Befragte mit einem hohen verfügbaren Einkommen mit 41,5%, Befragte mit einem niedrigen verfügbaren Einkommen mit 61,4% (stark) ab. Es besteht eine Korrelation zwischen der subjektiven Wirkungserwartung der Wahlteilnahme und dem eigenen Einkommen (Elsässer 2018) sowie Unterschiede in der Erfahrung von Anerkennung und Missachtung eigener Interessen zwischen Einkommensgruppen (Brülle und Spannagel 2023), was auch durch aktuelle ALLBUS-Daten gestützt wird. Der These „Politiker kümmern sich nicht viel darum, was Leute wie ich denken“ stimmten 51,5% der Befragten mit hohem verfügbarem Einkommen und ganze 78% der Befragten mit niedrigem verfügbaren Einkommen (vollkommen) zu.
Wahlen als Ventil der Unzufriedenheit
Auch wenn die Individuen der unteren und mittleren Einkommensschichten meist entkollektiviert der nach unten fahrenden Rolltreppe entgegenrennen, verdeutlicht sich im Kontext politischer Teilhabe ein kollektives Muster: milieuspezifisches Wahlverhalten. Sehr eindrücklich war dies bei der Bundestagswahl 2025 zu erkennen. Innerhalb des prekären (also von Unsicherheit geprägten und meist einkommensschwachen) Milieus war die stärkste Partei die AfD mit 45% (2021: 27%), gefolgt von der Union mit 18% (2021: 18%) und der SPD mit mageren 9% (2021: 30%) (Vehrkamp 2025).
Milieuspezifisches Wahlverhalten ist prinzipiell nicht problematisch – im Gegenteil: Unterschiedliche Parteien können und sollen unterschiedliche Bevölkerungsgruppen repräsentieren. Der rasante und starke Anstieg einer in Teilen gesichert rechtsextremen Partei zeugt jedoch von einem Prozess der „demokratischen Entfremdung“ des Milieus und kann in Verbindung mit den drei Herausforderungen sowohl als Abrechnung mit den etablierten Volksparteien (ebd.), als auch als Misstrauen bezüglich politischen Repräsentant:innen interpretiert werden.
Die beobachteten Asymmetrien aufgrund sozialer Ungleichheit bergen großes Gefahrenpotenzial. Staffan I. Lindberg, Direktor des V-Dem Instituts, schrieb 2022 zu Ungleichheit und Autokratisierung: „Wenn aus sozialer Ungleichheit Unzufriedenheit mit der Demokratie wird, dann ist ihre Stabilität in Gefahr“ (Lindberg und Lundstedt 2022). Damit sich dieser Grad des Misstrauens und Unmuts nicht auf die Mehrheitsgesellschaft und dadurch auf die dahinterstehende Gesellschaftsform und seine Institutionen überträgt, braucht es effektive progressive und inklusive Lösungsansätze.
Sozialpolitik als Hebel
Wie kann die Sozialpolitik im Lichte der beobachteten Einstellungen in einkommensschwachen Milieus gesellschaftsförderlich und befähigend ansetzen? Umfragen im Zusammenhang mit der letzten Bundestagswahl zeigen: Das Thema, das für die Wahlentscheidung der Wähler:innen die größte Rolle gespielt hat, war neben der inneren tatsächlich die soziale Sicherheit (Tagesschau 2025). Und das, obwohl im Wahlkampf wirtschafts- und migrationspolitische Prioritäten gesetzt und mit Blick auf die Bürgergelddebatte Verteilungskonflikte zwischen „oben und unten“ zu Konflikten zwischen „innen und außen“ stilisiert wurden (Laudenbach 2025). Eine repräsentative Umfrage des Zentrums für neue Sozialpolitik zeigt außerdem, dass die These „Die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe sind in Deutschland auch für Menschen mit geringem Einkommen ausreichend gegeben“ von 67,2% der Menschen mit niedrigem verfügbaren Einkommen eher oder stark abgelehnt wird (Afscharian et al. 2025).
Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe sind ein elementar wichtiger Faktor, um Menschen, die dem Risiko der Stigmatisierung ausgesetzt sind, in das gesellschaftliche Zusammenleben einzubinden und ihre Identifikation mit dem Gesellschaftssystem gewährleisten zu können. Dass sozialpolitische Forderungen trotz des beschriebenen Wahlkampfklimas zu den wichtigsten Wahlentscheidungen gehören, unterstreicht ihre unabdingbare Relevanz. Eine gerechte Sozialpolitik kann nicht nur in der Theorie ausufernde soziale Ungleichheit, die in Unzufriedenheit mündet, eindämmen, die Menschen fordern sie sogar aktiv ein. Instrumente wie ein Startchancenkapital oder eine Leistungsbemessung am Lebensqualitätsminimum (Fischer et al. 2025) würden effektive Lösungsansätze darstellen.
Um die bestehende Asymmetrie in der Wahrnehmung von und der Identifikation mit der deutschen Demokratie eindämmen zu können, braucht es daher einen progressiven, chancenstiftenden und befähigenden Sozialstaat. Er kann einerseits dabei helfen, die Richtung der Rolltreppe zu ändern und andererseits die darauf fahrenden Menschen näher zusammenbringen. Dieser Verantwortung müssen politische Entscheidungsträger:innen gerecht werden. Das ist nicht nur eine Frage politischer Willensbildung – sondern eine der demokratischen Resilienz. Denn Sozialpolitik ist auch Demokratiepolitik.
Literatur
Afscharian, Dominic, Louisa Bayerlein und Lena Eck. 2025. „Ungleiche Chancen, geringes Vertrauen: Wie die Deutschen auf den Sozialstaat blicken“. Berlin: Zentrum für neue Sozialpolitik.
Beck, Ulrich. 1986. „Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne“. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Bödecker, Sebastian. 2012. „Soziale Ungleichheit und politische Partizipation in Deutschland“. WZBrief Zivilengagement, No. 5. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.
Brülle, Jan und Dorothee Spannagel. 2023. „Einkommensungleichheit als Gefahr für die Demokratie“. WSI-Mitteilungen, 76(6), 444-451. Baden Baden: Nomos Vertragsgesellschaft.
Elsässer, Lea, Svenja Hense und Armin Schäfer. 2017, „‘Dem Deutschen Volke‘? Die ungleiche Responsivität des Bundestags.“ Zeitschrift für Politikwissenschaft, 27(2), 161-180. Wiesbaden: Springer VS.
Elsässer, Lea. 2018. „Wessen Stimme zählt? Soziale und politische Ungleichheit in Deutschland“. Frankfurt am Main: Campus Verlag.
Fischer, Torben, Moritz Rüppel, Maike Wittmann, Levi Henze und Janek Steitz. 2025. „Lebensqualitätsminimum in Deutschland. Einblicke in Konzeption und Pilotstudie“. Berlin: Zentrum für neue Sozialpolitik.
Huth, Iris. 2004. „Politische Verdrossenheit: Erscheinungsformen und Ursachen als Herausforderungen für das politische System und die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland im 21. Jahrhundert“. Münster: LIT Verlag.
Kneip, Sascha, Wolfgang Merkel und Bernhard Weßels. 2020. „Legitimitätskrise der Demokratie in Deutschland?“. Legitimitätsprobleme. Wiesbaden: Springer VS.
Laudenbach, Peter. 2025. „Interview mit dem Soziologen Klaus Dörre“. Süddeutsche Zeitung. 2025. https://www.sueddeutsche.de/kultur/afd-arbeiter-klaus-doerre-interview-li.3210700?reduced=true.
Lehmann, Pola, Sven Regel und Sara Schlote. 2015. „Ungleichheit in der politischen Repräsentation“. Demokratie und Krise. Wiesbaden: Springer VS.
Lindberg, Staffan I. und Martin Lundstedt. 2022. „Ungleichheit, Demokratie und Autokratisierung“. Aus Politik und Zeitgeschichte. 2022. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/ungleichheit-2022/512777/ungleichheit-demokratie-und-autokratisierung/
Nachtwey, Oliver. 2016. „Die Abstiegsgesellschaft – Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne“. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Spannagel, Dorothee und Aline Zucco. 2022. „Armut grenzt aus: WSI-Verteilungsbericht 2022“. WSI Report, No. 79. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut.
Tagesschau. 2025. „Welche Themen entschieden die Wahl?“ tagesschau.de. 2025. https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2025-02-23-BT-DE/umfrage-wahlentscheidend.shtml
Vehrkamp, Robert. 2025. „Selbstbeschädigung der Mitte – Die Ergebnisse der Bundestagswahl 2025 in den sozialen Milieus“. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.
Autor:innen

Louisa Bayerlein
Junior-Referentin Bereich Zukunftsfähiger Sozialstaat
bayerlein@zentrum-neue-sozialpolitik.org

Jakob Funk
Praktikant Bereich Zukunftsfähiger Sozialstaat