Ambivalenz vor dem Anpfiff

Die Reform der Schuldenbremse aus sozialpolitischer Sicht

Noch bevor die Koalitionsverhandlungen wirklich laufen, kündigen Union und SPD eine Reform der Schuldenbremse nebst neuem Sondervermögen an. Dominic Afscharian und Vanessa von Hilchen diskutieren diesen Schritt in ihrem Meinungsbeitrag aus sozialpolitischer Sicht und sehen gleichermaßen Grund zur Hoffnung und Skepsis 

von Vanessa von Hilchen & Dominic Afscharian

Es war der erste große Knall der neuen Legislaturperiode – bevor diese überhaupt begonnen hat. Union und SPD wollen noch im alten Bundestag die Schuldenbremse reformieren und ein Sondervermögen für Infrastrukturinvestitionen aufsetzen. Ausgerechnet die Union, die jahrelang eisern für die Einhaltung der Schuldenbremse kämpfte, vollzieht unter Merz also einen unerwarteten Kurswechsel, der lagerübergreifend vor allem eins erzeugt: Ambivalenz. Das gilt auch und gerade aus Sicht der Sozialpolitik.  

Ein Blick zurück zeigt, warum dieser Schritt so bemerkenswert ist: Über ein Jahrzehnt galt die Schuldenbremse parteiübergreifend als unumstößliches finanzpolitisches Gebot. Friedrich Merz selbst profilierte sich dabei als einer ihrer vehementesten Befürworter (ZDFheute 2023). Dass nun er die Tür zu einer neuen Rekordverschuldung öffnet, unterstreicht die Tragweite der aktuellen Krisen und des geopolitischen Drucks. Es ist ein Paradigmenwechsel, der Deutschland nachhaltig verändern könnte. 

The good: Handlungsfähigkeit und Investitionen 

Eines vorweg: Die angekündigten Investitionen an sich sind in der Sache zu begrüßen, denn Deutschlands Infrastruktur bröckelt schon lange unter ungedeckten Investitionsbedarfen (Dullien u. a. 2024). Vor dem Hintergrund der angespannten transatlantischen Beziehungen (Wintour 2025) sind steigende Ausgaben europäischer Staaten für die eigene Verteidigungsfähigkeit zudem ein logischer Schritt. Diese Vorhaben noch im alten Bundestag zu verabschieden ist zwar in vielerlei Hinsicht problematisch – dazu später mehr – aber erhöht die Chance, dass dringend nötige Investitionen umgesetzt werden können.  

Auch aus sozialpolitischer Sicht könnten die aktuellen Entwicklungen positive Implikationen haben, denn sie schaffen Raum in der Staatskasse. Die Ampelregierung musste bis zum eigenen Zerbrechen um jeden Euro ringen, sodass Sozialausgaben immer expliziter in ein Konfliktverhältnis mit anderen Posten gestellt wurden (Tagesschau 2024). Je mehr Politikfelder unter die Schuldenbremse fallen, desto größer ist die vermeintliche fiskalische Konkurrenz, der der Sozialstaat ausgesetzt ist. Sollten nun tatsächlich Verteidigungsausgaben über 1% des Bruttoinlandsprodukts von der Schuldenbremse ausgenommen werden, nimmt das zumindest theoretisch zusammen mit dem neuen Sondervermögen Druck vom Kessel. Auch ganz generell ist zu hoffen, dass eine stärkere Investitionstätigkeit die Wirtschaft ankurbelt, Jobs kreiert und soziale Härten abfedert. So gewinnt der Sozialstaat Luft zum Atmen und die künftigen Koalitionär:innen räumen einen potenziellen Konfliktpunkt noch vor der Regierungsbildung ab.  

Ohnehin ist die Einigung auf den ersten Blick ein gutes Zeichen für die kommende Legislatur. In Abgrenzung zum Dauerstreit der Ampel signalisieren Union und SPD Handlungsfähigkeit. Beide Seiten können die Einigung als Erfolg verkaufen und eine fundamentale Frage wurde relativ konfliktarm geklärt. Das könnte in zweierlei Hinsicht Hoffnung auf eine konstruktivere Sozialpolitik machen, als es im Wahlkampf noch zu vermuten war: Erstens sind beide Parteien trotz erheblicher gegenseitiger Angriffe in den vergangenen Monaten auch in fundamentalen Streitpunkten kompromissfähig; zweitens ist die Union bereit, bei Fragen einzulenken, die lange als rote Linien gehandelt wurden. Mit einer gehörigen Portion Optimismus könnte man also hoffen, dass auch in anderen Grundsatzfragen, z.B. in der Sozialpolitik, Raum für Zusammenarbeit besteht.   

The bad: Soziales auf dem Abstellgleis? 

Trotz aller Gründe zum Optimismus bleibt ein Gefühl der Ambivalenz, denn es ist fraglich, inwiefern die geplanten Finanzmittel langfristig zu sozialer und wirtschaftlicher Stabilität beitragen werden. Bislang spielen sozialpolitische Aspekte allenfalls eine Nebenrolle. Dabei böten 500 Milliarden Euro eine historische Chance, soziale Weichenstellungen vorzunehmen – nicht nur in der Bildung, sondern auch in sozialem Wohnungsbau, bei der Bekämpfung von Kinder- und Altersarmut sowie beim Ausbau eines fairen und leistungsfähigen Gesundheitswesens. Solche Investitionen könnten erheblich dazu beisteuern, gesellschaftliche Ungleichheiten abzubauen und Deutschland zukunftssicher zu machen.  

Gerne wurde in der Vergangenheit der Einwand gebracht, Sozialmaßnahmen seien reine Konsumausgaben (Apolte 2023). Tatsächlich hat die Forschung aber längst gezeigt, dass moderne Sozialpolitik als Investition wirken kann (Hemerijck 2017; Hemerijck und Mushövel 2025). Und gerade das elementare Anliegen, Investitionen generell aus der Schuldenbremse auszunehmen, wird durch das geplante Sondervermögen auf die lange Bank geschoben. Dadurch wird zwar die dornige Frage der genauen Definition von „Investitionen“ vermieden, aber eben auch nicht gelöst. Da Investitionen – auch und gerade in den sozialen Zusammenhalt – aber ein Dauerthema bleiben werden, ist es politisch höchst riskant, sie nicht direkt in die Reform einzubeziehen.  

Langfristig könnte der geplante finanzpolitische Kurs Deutschland vor erhebliche Herausforderungen stellen. Zwar könnten kurzfristig neue politische Allianzen entstehen, doch mittelfristig drohen harte Verteilungskämpfe, wenn soziale Fragen nicht früh genug mitgedacht werden. Steigende Schulden könnten somit erneut zum Argument werden, um Kürzungen bei sozialen Leistungen durchzusetzen – zu Lasten der Schwächsten der Gesellschaft.  

Um das zu verhindern, signalisierte die Linkspartei kürzlich ihre Unterstützung für eine Abschaffung der Schuldenbremse (Tagesschau 2025), wodurch Investitionen in Infrastruktur, Verteidigung und Soziales möglich geworden wären. Durch die Einbringung des schwarz-roten Vorhabens in den alten Bundestag wird der Machthebel der Linken nun umgangen. Das reduziert einerseits das Risiko einer vollumfänglichen Blockade dringend nötiger Investitionen in anderen Politikfeldern, erhöht zugleich aber die Wahrscheinlichkeit, dass weitere Reformen der Schuldenbremse im neuen Bundestag mangels Drucks unter den Teppich gekehrt werden. Ähnliche Abwägungen ziehen sich durch die gesamte Debatte: Europa wird verteidigungsfähiger, aber die gegenüber anderen Staaten eisern durchgesetzten europäischen Fiskalregeln werden kaum erwähnt. Investitionen werden ermöglicht – aber gerade durch die Partei, die Reformen lange blockierte. Die Sozialpolitik steht in diesem Sinne also nicht allein da – Ambivalenz unter dem Brennglas. 

The ugly: Ein demokratietheoretisches Spiel mit dem Feuer 

Schließlich wirft der Prozess, der zur Umsetzung der Reform führen soll, erhebliche demokratietheoretische Fragen auf. Die Entscheidung, solch fundamental finanzpolitische Weichenstellungen noch durch den alten Bundestag zu verabschieden, obwohl durch die kürzlich erfolgte Bundestagswahl eigentlich neue Mehrheiten geschaffen wurden, erzeugt zumindest Unbehagen. Das Verhalten von SPD und Union suggeriert, dass hier Fakten geschaffen werden sollen, bevor der neue Bundestag mit einer anderen Sperrminorität seine Arbeit aufnehmen kann. Dieses Vorgehen wirkt besonders problematisch, wenn man bedenkt, dass es die Union war, die jahrelang eine Reform der Schuldenbremse und damit notwendige Investitionen in die Zukunft des Landes blockiert hat – im selben Bundestag, der einer Reform nun zustimmen soll. Dass dieselbe Partei direkt nach der Wahl und im Widerspruch zu eigenen Ankündigungen eine 180-Grad-Wende hinlegt, könnte für manche nach destruktiver Oppositionsarbeit aussehen (Mayr 2025). Wie viel taktisches Manöver und wie viel pragmatischer Kompromiss in diesem Prozess tatsächlich stecken, ist für die Außenwirkung zweitrangig. Alle Beteiligten müssen sich nun darum bemühen, die Glaubwürdigkeit demokratischer Prozesse zu beschützen und zynischen Blicken auf die Politik entgegenzuwirken. 

Dennoch, bei aller berechtigten Kritik: Die Einigung zwischen Union und SPD bleibt für den Moment eine beachtliche Errungenschaft. Viele der genannten Sorgen sind hypothetisch und es liegt ganz in der Hand der nächsten Regierung, sie aufzulösen und einige zentrale Fragen zu beantworten: Wird es tatsächlich noch zu einer weiterführenden Reform der Schuldenbremse kommen? Wird diese einen sozialen Ausgleich schaffen? Wird die nächste Regierung Sozialpolitik als Investition oder als fiskalische Last ansehen?  

Damit das milliardenschwere Programm der potenziellen Koalitionär:innen nicht zur sozialen Hypothek kommender Generationen wird, braucht es dringend eine transparente, sozial gerechte und zukunftsfähige Strategie. Nur so lässt sich sicherstellen, dass die lange überfällige Kehrtwende in Sachen Investitionsbereitschaft zu einem nachhaltigen Beitrag für soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Stabilität in Deutschland wird.  

Literatur

Apolte, Thomas. 2023. „Reform der Schuldenbremse!?“ Wirtschaftliche Freiheit (blog). 2023. https://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=35380. 

Dullien, Sebastian, Simon Gerards Iglesias, Michael Hüther und Katja Rietzler. 2024. „Herausforderungen für die Schuldenbremse: Investitionsbedarfe in der Infrastruktur und für die Transformation“. 168. IMK Policy Brief. Düsseldorf: Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung. 

Hemerijck, Anton. 2017. „Social Investment and Its Critics“. In The Uses of Social Investment, herausgegeben von Anton Hemerijck, 0. Oxford: Oxford University Press. https://doi.org/10.1093/oso/9780198790488.003.0001. 

Hemerijck, Anton und Fabian Mushövel. 2025. „Sozialpolitik ist eine Investition: Wie sie Wohlstand sichern und Wachstum ankurbeln kann“. Zentrum neue Sozialpolitik. 2025. https://zentrum-neue-sozialpolitik.org/sozialpolitik-ist-eine-investition/. 

Mayr, Anna. 2025. „Schuldenbremse: Als ob die Wähler ein bisschen dümmlich wären“. Die Zeit, 2025. https://www.zeit.de/2025-03/schuldenbremse-reform-union-donald-trump-wahlkampf. 

Tagesschau. 2024. „Kritik aus SPD und Grünen an Lindner-Vorstoß zu Sozialleistungen“. tagesschau.de. 2024. https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/sozialausgaben-ruestung-lindner-100.html. 

———. 2025. „Sondierungsgespräche werden fortgesetzt“. tagesschau.de. 2025. https://www.tagesschau.de/inland/sondierungen-union-spd-104.html. 

Wintour, Patrick. 2025. „JD Vance’s Munich Speech Laid Bare the Collapse of the Transatlantic Alliance“. The Guardian, 2025. https://www.theguardian.com/world/2025/feb/15/jd-vance-munich-speech-laid-bare-collapse-transatlantic-alliance-us-europe. 

ZDFheute. 2023. „‚Keine Notlage‘: Merz will an der Schuldenbremse festhalten“. 2023. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/merz-schuldenbremse-notlage-100.html. 

Fotos

Saskia Esken: Kritzolina, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons

Lars Klingbeil: Michael Lucan, CC BY-SA 3.0 DE <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en>, via Wikimedia Commons

Friedrich Merz: Steffen Prößdorf, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons

Markus Söder: Mueller /MSC, CC BY 3.0 DE <https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de/deed.en>, via Wikimedia Commons

 

Autoren

Vanessa von Hilchen

Leitung Politische Kommunikation

vonhilchen@
zentrum-neue-sozialpolitik.org

Dr. des. Dominic Afscharian

Wissenschaftlicher Mitarbeiter Bereich Zukunftsfähiger Sozialstaat

afscharian@
zentrum-neue-sozialpolitik.org